Bild: Der Struggle ist real: Kann gesellschaftlicher Konsens entscheiden, wann ein Outing angebracht ist? , Hustadt-Plakatierung: Outings gegen Nazis sind der falsche Weg Bild: kac

Kommentar. Antifa aus der Mottenkiste: Unbekannte Aktivist*innen haben einen in der Hustadt wohnenden Nazi der „Identitären Bewegung“ geoutet. In Zeiten, in denen die AfD zur zweitstärksten Kraft aufzusteigen droht, ist das der falsche Weg.

Herrschaft bestehe aus zwei Säulen: Zwang und Konsens. Das schrieb der italienische Kommunist Antonio Gramsci in seinen berühmten „Gefängnisheften“. Der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens spitzte seine Überlegungen in einer markanten Formel über den Staat zusammen: „politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Heute sind Gramscis Überlegungen aktueller denn je. Nicht nur, weil sie bereits seit Jahren im akademischen Kontext verdaut werden, sondern weil seine Notizen unter Aktivist*innen eine Renaissance erfahren. Und zwar von Rechtsaußen.
Denn die „Identitäre Bewegung“ hat ausgerechnet jenen marxistischen Revolutionstheoretiker für sich entdeckt, der in der faschistischen Haft starb. Gramscis beschriebener Kampf um das Denken, um die kulturelle Hegemonie, welche die „Gesamtscheiße“ (Marx) zusammenhält (neben dem Zwang), wird umgekrempelt: gegen die multikulturelle Gesellschaft, gegen das (angeblich) linksliberale Establishment.
Im fünfzigsten Jubiläumsjahr der 68er-Bewegung bröckelt diese bürgerliche Hegemonie. Und zeigt, sofern Gramsci Recht hat, zwei Symptome:
1. Die ideologische Vereinnahmung wuppt immer schlechter und weicht einem autoritären-antidemokratischen „Zwang“ aus Knüppeln oder Pfefferspray wie zuletzt im Hambacher Forst oder beim G20-Gipfel im Hamburg zu bestaunen. 2. Die Ideen vom rechten Rand dringen zunehmend in die bürgerliche Mitte vor und diktieren den Ton des „Konsens“. Hegemonie, gepanzert mit (Neu)Rechten.

Konsens bröckelt

Dieses Phänomen ist nicht erst seit gestern zu beobachten. Doch bei den Antifa-Atzen aus der Nachbarschaft ist es offensichtlich noch nicht angekommen. Sie gehen wie jüngst in der Hustadt gegen den Studenten Bastian Hans, ein führender Neonazi der „Identitären Bewegung“, nachts plakatieren. Nachbar*innen sollen vor dem gewaltbereiten Nazi gewarnt werden – eine Methode, die bis vor wenigen Jahren für Antifaschist*innen erfolgreich schien: Die liberale Hegemonie saß fest im Sattel, rechte Ideen waren verpönt. Kurz: Aktivist*innen konnten sich noch auf einen Konsens verlassen, um Nazis zu brandmarken. In der Nachbarstadt, in der Schule, im Betrieb, in der Uni.
Heute ist die AfD in vielen Nachbarschaften dritt bis zweitstärkste Partei, tastet sich behutsam in die Betriebsvertretungen und Gewerkschaften vor und holt bald mit einer eigenen Stiftung an den Unis zum Großangriff aus. Wer heute Nazis outet, verlässt sich auf einen „Konsens“, der zusammenzubrechen droht.
Wie schnell das geht, beweisen ausgerechnet die einstigen Ostblockstaaten: Antifaschismus war dort quasi staatlich verordnet, ein festes Zement der Hegemonie. Bis die stalinistischen Diktaturen zusammenfielen. In Ländern wie Rumänien, Polen oder Ungarn gehören heute Outings zur Tagesordnung. Junge Aktivist*innen werden zum Teil von Familien und Freund*innen verstoßen und ausgeschlossen, weil sie sich engagieren. Als Antifaschist*innen gegen die rechte Hegemonie.          

:Benjamin Trilling

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