Pro-Kommentar. Poetry Slam polarisiert wie keine andere Kunst. Viel Kritik scheint bei genauerer Betrachtung aber sehr kurzsichtig.
Die „widerlichste Kunstform, die in den letzten 20 Jahren in Deutschland entstanden ist“, sagt Jan Böhmermann. „Du freust dich auf dein erstes Date. Sie will zum Poetry Slam. Life is bitter“, sagt die Fernet-Branca-Werbung. Und natürlich findet auch der Doppelmoralapostel und Alles-scheiße-Finder Shahak Shapira Poetry Slam kacke. Ja, Poetry Slam scheiße finden ist momentan definitiv en vogue.
Argumentiert wird häufig am Beispiel Julia Engelmann. Ihr Text „Eines Tages, Baby“ ging viral und erzählt von Orientierungslosigkeit, von Glühwürmchen und davon, auf Häuserdächern sich barfuß den Sonnenuntergang anzuschauen. Und ja, das mag der/die einE oder andere kitschig oder drüber finden, aber Poetry Slam ist so viel mehr. Ich sage ja auch nicht, ich finde Musik scheiße, weil es Pietro Lombardi und David Guetta gibt. Es gibt Witziges und Trauriges. Es gibt Überspitztes und es gibt Literarisches. Poetry Slam ist Performance, Lautpoesie, Kabarett und Lyrik. Und auch hier: Nicht alles muss gefallen. Und ja, vielleicht gibt es auch mal Auftritte, die aus fünf Minuten gefühlte zwei Stunden machen.
Es gibt aber eben auch Texte, die mich mitreißen. Die mich entführen und meine gesamte Aufmerksamkeit erfordern. Texte, bei denen ich mich unterhalten fühle und lache oder von Rhythmus, Wortkonstruktionen und Performance gebannt werde.
Poetry Slam ist vielschichtig
Poetry Slam lebt von Varianz. Es ist eben Comedy, Lyrik, Lautmalerei und vieles mehr im shotgunartigen Fünf-Minuten-Wechsel. In Zeiten von personalisierten Vorschlägen bei Amazon, personalisierter Werbung und Facebook-Filterblase bietet Poetry Slam wieder die Möglichkeit, die Gesamtheit zu sehen. Und da kann eben auch was dabei sein, das man nicht mag. Shahak Shapira hat übrigens in seinem Nightwash-Auftritt über Poetry Slam nur Zitate von Julia Engelmann benutzt. Und wer wegen Julia Engelmann sagt: „Poetry Slam ist überschätzt“, der könnte auch sagen: „Ich hab auf Eurosport Dart gesehen. Sport finde ich ganz schön langweilig“, oder „Ich hab mal einen Song von Avicii gehört. Musik ist keine Kunst.“
:Andreas Schneider
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