Kommentar. Gewalttätige Übergriffe gegen Schwule, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuelle haben in Deutschland im ersten Halbjahr 2017 um 30 Prozent zugenommen. Diese Entwicklung ist einer (angeblich) aufgeklärten Gesellschaft unwürdig.
Sommer 2017: Die Regenbogenfahnen wehen über weite Teile des Landes hinweg. Deutschland befindet sich im kollektiven Freudentaumel, als der Bundestag mit einer großen Mehrheit die Ehe für alle beschließt. Auf den Straßen feiern die Menschen einen angeblich so revolutionären Schritt. Dass dieser Schritt längst überfällig war, dass die bis dahin fehlende Gleichstellung der liebenden Verbindung zwischen gleichgeschlechtlichen
Paaren mit der konservativen Ehe zwischen Mann und Frau ein Armutszeugnis darstellt, wird da gern ausgeblendet. Man feiert sich lieber als große BefreierInnen von Normen und Konvention. Ein paar Wochen waren die Regenbogenfahnen immerhin mancherorts noch zu sehen, dann ging man zum Alltag über. Und dass dieser Alltag keineswegs aufgeklärt und tolerant ist, beweisen die aktuellen Zahlen des Bundesinnenministeriums: Zwischen Januar und Juli kam es zu mindestens 130 Attacken gegen homo-, bi-, trans- und intersexuelle Menschen. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum eine Steigerung von 30 Prozent.
Ein deutsches Problem
Diese Entwicklung ist beschämend und es hilft nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, denn fast 70 Prozent der Fälle liegen laut Innenministerium keine eindeutig erkennbaren ideologischen Motive zugrunde. Trotz einer relativ geringen Zahl von 130 Attacken ist demnach von einer homofeindlichen Grundstimmung aus der Mitte der Gesellschaft auszugehen. Zwar steigt laut mehrerer Studien die Akzeptanz gegenüber nicht-heterosexuellen Paaren seit Jahren linear an, jedoch ist die latente Homofeindlichkeit seit Jahren unverändert hoch. Keiner nicht-heterosexuellen Person ist mit einer Gesellschaft geholfen, in der mehr als ein Drittel mit der Einstellung „Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber wenn die sich küssen, finde ich das ekelig“ leben.
Doch ist es überhaupt verwunderlich, dass noch so große Teile der Gesellschaft Probleme mit homosexueller Liebe haben, wenn bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen zwei Männern noch unter Strafe standen? Ist es wirklich bemerkenswert, dass gerade unter den Menschen, die mit diesem Straftatbestand, dem unsäglichen Paragraph 175 aufgewachsen sind, eine homophobe Grundstimmung herrscht?
Da bringt es nichts, wenn sich PolitikerInnen weltoffen geben. Es wird kein Zeichen damit gesetzt, wenn aus politischem Kalkül, nicht aus Überzeugung für die Ehe für alle gestimmt wird, aber dem homofeindlichen Mob kein Einhalt geboten werden kann. Was Deutschland braucht, ist nicht nur die komplette Gleichstellung von hetero- und homosexuellen Paaren und Menschen, sondern eine grundlegende Modernisierung des kollektiven Denkens. Es ist nicht „unnatürlich“, wenn sich zwei Frauen lieben, es ist nicht „ekelhaft“, wenn sich zwei Männer küssen. Das ist Liebe. Und Liebe ist größer als Hass. Und Liebe darf keinen Menschen dazu verleiten, andere Menschen anzugreifen oder irgendwie zu attackieren.
Der homofeindlichen Stimmung in dieser Gesellschaft muss Einhalt geboten werden, denn sie ist einer Demokratie nicht würdig. Hier sind Politik und Zivilgesellschaft gefragt, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert, nicht in den dunkelsten Epochen dieses Landes.
:Justinian L. Mantoan
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