Die Türkei wird hierzulande meist als ein Land mit religiös homogener Bevölkerung wahrgenommen. Dabei zählen zu den 80 Millionen EinwohnerInnen neben der sunnitisch-islamischen Mehrheit auch geschätzt 10 bis 15 Millionen Angehörige des Alevitentums. In der türkischen Gesellschaft hatten die AlevitInnen schon immer einen schweren Stand. Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli hat sich ihre Situation jedoch deutlich verschlechtert. Patrick Henkelmann fragte für die :bsz daher bei der alevitischen Jugendorganisation BDAJ nach.
Das Alevitentum ist eine teilweise aus dem Islam hervorgegangene Religion, die man als undogmatisch, humanistisch und mystisch charakterisieren kann. In der Türkei wird das Alevitentum strukturell benachteiligt gegenüber dem sunnitischen Islam, für dessen Lehre und Finanzierung die staatliche Religionsbehörde Diyanet zuständig ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im April in einem Urteil festgestellt, dass diese Praxis gegen die Religionsfreiheit verstößt.
In Deutschland leben über eine halbe Million AlevitInnen – und stellen damit etwa ein Sechstel der mehr als drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Sie sind organisiert in der Alevitischen Gemeinde Deutschland (AABF) und deren eigenständiger Jugendorganisation, dem Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ).
Ansteigende Gewalt
Politisch stehen die AlevitInnen größtenteils der liberalen oder linken Opposition gegen Präsident Erdoğan und dessen islamisch-konservative AKP nahe. Den Putschversuch von Teilen des Militärs lehnte dieses Oppositionsspektrum sofort aufs Entschiedenste ab.
Dennoch wurde die religiöse Minderheit in den folgenden Tagen in mehreren türkischen Städten zum Ziel von Erdoğan-treuen, nationalistisch und islamistisch gesinnten Mobs: „AKP-Anhänger sind in der Nacht in alevitische Stadtviertel eingedrungen und haben die dort lebenden AlevitInnen angegriffen. Vielerorts wurden Läden attackiert, von denen man wusste, dass sie AlevitInnen gehören.“ So schildert es Duygu Yücel, Co-Bundesvorsitzende des BDAJ (links im Bild).
Yücel bewertet diese Angriffe als Fortsetzung der seit Jahren ansteigenden Repression und Gewalt gegen Andersdenkende und Oppositionelle in der Türkei, insbesondere gegen AlevitInnen und KurdInnen. Parallel dazu habe die Diskriminierung der alevitischen Minderheit in Verwaltung und Wirtschaft zugenommen. Für die Zukunft befürchtet die BDAJ-Funktionärin Schlimmes: „Diese Gewalt wird von der Regierung toleriert und deswegen ist es sehr wahrscheinlich, dass uns solche Gewalttaten auch in nächster Zeit verfolgen werden. Die AlevitInnen in der Türkei leben in Angst.“
Werte verteidigen!
Von der deutschen und europäischen Politik fordert Duygu Yücel dementsprechend eine klare Haltung: „Anstatt die Türkei mit Millionen zu subventionieren, sollten sich Deutschland und die EU für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzten. Eine Zusammenarbeit mit Erdoğan und der AKP ist nicht akzeptabel.“ Doch angesichts des Flüchtlingsdeals zwischen der EU und der Türkei ist mit einem solchen Kurs gegenüber der Erdoğan-Autokratie in nächster Zeit nicht zu rechnen.
:Gastautor Patrick Henkelmann
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