Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist zuweilen als schwer zugänglicher Metaphysiker verschrien. In Bochum will man sich nun den anthropologischen Perspektiven seiner Schriften widmen.
Als er seine berühmte „Phänomenologie“ unter dem Kanonendonner der Schlacht bei Jena fertiggestellt hat, so die Legende, sah Hegel Napoleon vorbeireiten. Für ihn der „Weltgeist zu Pferde.“ Eine hartnäckige Anekdote über einen Denker, der schon früh umstritten war.
Manches hat sich daran nicht geändert: „Über Hegel sind teilweise noch heute allerhand Vorurteile und Missverständnisse im Umlauf. Eines besagt, dass er am Leben vorbeiphilosophiert und ‚spekulativen‘ Unsinn über das ‚Absolute‘ erzählt hat“, sagt Birgit Sandkaulen, wissenschaftliche Leiterin des Internationalen Hegel-Kongresses. „Das Gegenteil ist der Fall. Hegel hat sich in einem umfassenden Sinn für die Wirklichkeit interessiert, in der wir leben. Insbesondere hat er sich der wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Herausforderung der Moderne gestellt.“
Erkenne Dich selbst!
Das hat nicht zuletzt Denker wie Marx, Sartre oder Adorno stark beeinflusst. Auch heute gibt es wieder eine starke Hegel-Renaissance: „Hegel inspiriert die gegenwärtigen Diskussionen, weil er sich mit den natürlichen und soziokulturellen Bedingungen unseres Lebens fundamental auseinandergesetzt hat.“
Vom 17. bis 20. Mai soll daher nach den anthropologischen Perspektiven gefragt werden: Etwa Hegels Ansichten zum Verhältnis von Geist und Leib. Ausgehend von der Forderung „Erkenne dich selbst“ gehe es für Hegel darum, „sich darüber klar zu werden, was menschliches Leben in Wahrheit, also in seinen wesentlichen Anliegen, ausmacht“, so Sandkaulen.
Das Vortragsprogramm des Kongresses ist für Studierende der RUB offen.
Interview mit Birgit Sandkaulen vom Lehrstuhl für Philosophie an der RUB
„Erkenne dich selbst“: Mit dieser auf das Orakel von Delphi anspielenden Forderungen denkt Hegel über das nach, was das menschliche Leben in Wahrheit ausmacht. Beim Internationalen Hegel-Kongress vom 17.- 20. Mai stehen die anthropologischen Perspektiven seiner Philosophie im Vordergrund. Wir fragten bei Birgit Sandkaulen nach, die an der RUB einen Lehrstuhl für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Klassischen Deutschen Philosophie hat.
:bsz: Im Kongress soll es vor allem um anthropologische Perspektiven gehen? Welche Antworten bietet denn heute noch ein Systemphilosoph, ein Metaphysiker wie Hegel auf solche Fragen? Hat denn die moderne Anthropologie, Psychologen und Neurowissenschaftler, da nicht mehr zu bieten?
Birgit Sandkaulen: Wenn man meint, dass Hegel ein alter Metaphysiker war, der die ganze Welt in einen „absoluten Geist“ auflösen und einer totalitären „Vernunft“ unterwerfen wollte, wird man sich keine anthropologischen Einsichten von Hegel versprechen. Aber diese Meinung gehört eben zu den Vorurteilen, die schlicht falsch sind. Tatsächlich eröffnet Hegel seine Philosophie des Geistes mit einer Anthropologie, in der ganz basale Faktoren wie Leiblichkeit, Empfindung und Gefühl ausführlich behandelt werden. Menschen sind natürliche Wesen, aber sie sind keine Tiere.
Warum nicht? Was würde Hegel denn auf den zuweilen neurowissenschaftlichen Hype – teilweise ja auch in der Philosophie – antworten?
Diese ganz aktuell diskutierte und höchst komplexe Frage versucht Hegel mit seiner Philosophie des Geistes zu beantworten. Dabei liegt Hegels Stärke unter anderem darin, dass er die Aspekte von Geist und Leib miteinander vermitteln will. Neurophilosophische Ansätze, die allein auf die materiellen Grundlagen von Geist setzen, wären für ihn einseitig und unzureichend. Mit Hegel geht es vielmehr darum, die Einheit von beidem richtig zu verstehen, nicht eine Seite gegen die andere auszuspielen. Er ist ein Vermittler, der auch heute noch immer dort, wo einseitige Positionen verfochten werden, eine wichtige Inspirationsquelle sein kann. Mit einer Ignoranz gegenüber den Wissenschaften hat das im übrigen nichts zu tun. Schon in seiner Zeit hat sich Hegel intensiv mit den Wissenschaften der Natur und des Menschen auseinandergesetzt und eine Fülle von Material verarbeitet, wie es heute angesichts der rasanten und hochspezialisierten Wissenschaftsentwicklung einem einzelnen Forscher gar nicht mehr möglich wäre. Um so mehr bleibt aber Hegels Ansatz bedenkenswert, dass es wichtig ist, nach einer integralen Sicht auf die menschliche Lebenswelt zu suchen.
„Erkenne dich selbst“ lautet die von Hegel ausgegebene Devise des Kongresses: Was meinte Hegel, kurz gesagt, genau damit? Und was bedeutet es für unsere heutige Zeit?
Mit der Aufforderung „Erkenne dich selbst“ spielt Hegel auf das berühmte antike Orakel von Delphi an. Ausdrücklich ist er aber nicht der Meinung, dass wir uns diesem Spruch wie einer fremden göttlichen Botschaft unterwerfen sollten. Was er auch nicht meint, ist die Beschäftigung mit irgendwelchen persönlichen Marotten. Unter der Aufforderung „Erkenne dich selbst“ versteht Hegel den Appell, sich darüber klar zu werden, was menschliches Leben in Wahrheit, also in seinen wesentlichen Anliegen, ausmacht. Der Appell richtet sich nicht exklusiv an ein paar Philosophen. Hegel ist überzeugt, dass das Interesse, sich Klarheit darüber zu verschaffen, worum es eigentlich geht, zum menschlichen Leben in allen Kulturen gehört. Damit kommt die ganze Bandbreite natürlicher, geschichtlicher, ökonomisch-politischer und soziokultureller Umstände in den Blick.
Hegel hat Denker wie etwa Marx, Sartre oder Adorno, aber auch heutige GegenwartsphilosophInnen wie Slavoj Žižek oder Judith Butler beeinflusst. Was genau macht seine Theorie so bedeutend und einflussreich?
Über Hegel sind teilweise noch heute allerhand Vorurteile und Missverständnisse im Umlauf. Ein fatales Missverständnis besagt, daß er am Leben vorbeiphilosophiert und „spekulativen“ Unsinn über das „Absolute“ erzählt hat. Das Gegenteil ist der Fall. Hegel hat sich in einem umfassenden Sinn für die Wirklichkeit interessiert, in der wir leben. Insbesondere hat er sich der wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Herausforderung der Moderne gestellt. Das haben Denker wie Marx, Sartre oder Adorno klar gesehen, und das hat sich inzwischen längst auch in der angelsächsischen Philosophie herumgesprochen, wo es, v.a. in Nordamerika, eine große Hegel-Renaissance gibt.
Inwiefern gibt es da eine Aktualität?
Dabei geht es nicht darum, Hegels Position in allen Teilen zu übernehmen. Hegel inspiriert die gegenwärtigen Diskussionen, weil er sich mit den natürlichen und soziokulturellen Bedingungen unseres Lebens fundamental auseinandergesetzt und sich nicht in einen akademischen Elfenbeinturm zurückgezogen hat, wo nur Experten miteinander reden.
Besonders von linker Seite wird Hegel als preußischer Staatsphilosoph wahrgenommen und auch kritisiert – das, obwohl er zuvor die französische Revolution begrüßte. Ist er nun ein Reaktionär oder Revolutionär? Wie würde er etwa den heutigen politischen und gesellschaftlichen Wirren gegenüber stehen?
Hegels politische Philosophie ist umstritten. Aber der Mythos vom reaktionären preußischen Staatsphilosophen wird heute kaum mehr vertreten. Eine der Stärken seiner politischen Philosophie ist, dass sie die Rolle der Ökonomie in marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaften vor allem auch im Hinblick auf deren Probleme ausführlich reflektiert. Für Hegel muss es gesellschaftliche Institutionen wie eine Sozialfürsorge geben, die den Einzelnen gegenüber den Härten der ökonomischen Wirklichkeit absichern. Kurz: Hegel ist ein Denker, für den marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaften zugleich Solidargemeinschaften sein müssen. Der Markt kann nicht sich selbst überlassen bleiben. Mit der Frage, was wir eigentlich unter Freiheit verstehen, welches Leben wir als ein gutes und glückliches Leben bezeichnen, was wir von politischer Partizipation erwarten und welche Rolle die Bildung bei all diesen Fragen spielt, hätte Hegel sich sicher auch heute in die Debatten eingemischt.
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