Ein Reh, das stolz und anmutig durch Bochum wandert? Was damals noch normal erschien, ist in unserer postindustriellen, verseuchten Welt ein Kuriosum.
Ich las es zuerst in der :bsz. Ein Studierender hatte beim Joggen zwischen den Fabrikruinen und der strahlendgrün glänzenden Ruhr etwas Seltsames entdeckt. Ihm zu Folge war es keine neue Art der dreiäugigen Fische, die aus dem Industrieschlamm kamen. Es war auch kein zweihälsiger Schwan, der seine Jungen am Flussufer gebar. Vielmehr sei es aus dem Stahlunterholz gekommen und über die Wiese gestakst. Klein sei es gewesen, vier Füße habe es gehabt, einen Kopf und zwei Ohren. Nach intensiver Recherche in alten Chroniken und verstaubten Bildbänden hat die :bsz das Tier dann als Reh identifiziert. Rehe, gab es so etwas wirklich noch? Ungewöhnlich, angesichts dessen, dass hier alles von der Industrie verpestet und verhunzt wurde.
Ungewohntes Abenteuer
Ich zog mir also meinen neongelben Schutzanzug an, überprüfte, ob der Schlauch zur Sauerstoffzufuhr richtig saß und machte mich auf. Mit der Machete schlug ich mir einen Pfad – die Pflanzen waren durch das Coltan, welches Nokia hinterlassen hatte, ins Unendliche gewuchert. Auf einer Lichtung stand dann das Geschöpf. Anmutig und elegant fraß es Gras.
Es war so anders, als alles, was ich bisher gesehen hatte. Nichts war zu viel oder überschüssig, es lief nicht aus oder sprühte Funken. Es schoss keine Giftpfeile ab oder spuckte Feuer. Es war schlicht und damit wunderschön. Es hatte lediglich einen kleinen Makel: Anstelle von Flecken zierten das Fell kleine, schwarze Fragezeichen. Das fragwürdig normale Reh schaute in mich hinein.
:Gastautor Jan Freytag
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