Bei den türkischen Parlamentswahlen am 7. Juni büßte Präsident Erdoğans religiös-konservative AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) nach 13 Jahren die absolute Mehrheit ein. Hätten dagegen nur die in Deutschland lebenden TürkInnen gewählt, könnte die AKP mit über 53 Prozent bequem weiterregieren. Das Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) hat das Wahlverhalten im Ausland lebender TürkInnen analysiert – mit interessantem Ergebnis.
Angesichts einer Sperrklausel von zehn Prozent bei den Parlamentswahlen fällt es schon ins Gewicht, wo die 2,8 Millionen im Ausland lebenden türkischen WählerInnen – davon etwa die Hälfte in Deutschland – ihr Kreuzchen machen. Sie stellen immerhin fünf Prozent aller Wahlberechtigten.
„Damit sind Stimmen aus Deutschland und anderen Staaten durchaus von großer Bedeutung für den Wahlausgang, und entsprechend war die Wählermobilisierung im Ausland deutlich wahrnehmbar und wurde in den Residenzländern oft aufmerksam bis skeptisch beobachtet“, heißt es in dem Papier des ZfTI. Wahlkampfauftritte türkischer PolitikerInnen würden nicht selten mit mangelnder Integration der EinwanderInnen verbunden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass mehrere aus Deutschland stammende Abgeordnete künftig in der türkischen Nationalversammlung sitzen. Mustafa Yeneroğlu zieht für die AKP ein, ebenso wie das Quartett Turgut Öker, Feleknas Uca, Ali Atalan und Ziya Pir für die HDP (Demokratische Partei der Völker).
Dezentrale Stimmabgabe
Gegenüber den Präsidentenwahlen im vergangenen Jahr stieg die Auslandswahlbeteiligung beträchtlich, von acht auf 37 Prozent. Laut ZfTI hatte dies auch organisatorische Gründe: „Anders als bei den Präsidentschaftswahlen wurden diesmal keine Mega-Wahllokale an wenigen zentralen Orten eingerichtet, sondern die Konsulatsgebäude dezentral als Wahllokale genutzt.“ Hinzu kam ein einmonatiger Abstimmungszeitraum.
Grenzüberschreitende Mobilisierung
Das Auslandsvotum zeigte sich dabei stärker polarisiert als in der Türkei selbst. Die AKP erhielt fast jede zweite (49,8 Prozent), die prokurdische HDP jede fünfte (20,2 Prozent) im Ausland abgegebene Stimme. „Beide Parteien sind aus Protestbewegungen entstanden und besitzen daher starke ideologische Mobilisierungskraft auf ihre Klientel, die auch grenzüberschreitend wirksam wird“, so die Interpretation. Die HDP erhielte besonders viele Stimmen in Ländern, die während des Kurdenkonflikts der 90er Jahre zahlreiche kurdische AsylbewerberInnen aufnahmen. In der Schweiz beispielsweise erreichte sie 47,5 Prozent.
„Zudem konnte die religiöse AKP möglicherweise über die ausländischen Moscheegemeinden punkten, die oftmals die wichtigste Organisationsform für die türkischen Bürger im Ausland sind“, analysiert das ZfTI. In klassischen Aufnahmeländern türkischer Migration wie eben Deutschland schnitt die AKP stark ab. Sie holte in 53,7 Prozent, in Nordrhein-Westfalen als Zentrum türkischer Migration und Mobilisierung sogar 59,7. Sie landete deutlich vor der HDP mit 17,5 Prozent (NRW 15,1). Die kemalistische CHP (Republikanische Volkspartei) blieb mit 16 Prozent der Stimmen in Deutschland (NRW 12,7) weit hinter den 25,1 Prozent in der Türkei selbst. Ihr Stimmanteil unter allen AuslandstürkInnen war mit 17,2 Prozent nur unwesentlich besser. Die national-konservative MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) – im Gesamtergebnis immerhin dritte Kraft – würde im Ausland mit 9,3 Prozent theoretisch nicht den Sprung in die Nationalversammlung schaffen. In Deutschland würde die MHP mit 9,7 Prozent (NRW 9,9 Prozent) die Sperrklausel aber denkbar knapp verfehlen.
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