Kennt Ihr auch diese Leute, die nur vorm Rechner sitzen und ihren Mitmenschen lediglich ein paar Mal die Woche in Form des Pizzaboten begegnen? Oder jene, die permanent in sozialen Netzwerken abhängen und ihr Smartphone immer in Sicht- oder Spürweite haben müssen? Die digitale Revolution hat uns zweifelsohne fest im Griff – bei manchen mündet das bis in die Internetabhängigkeit. Über dieses neue Phänomen informierte und diskutierte der Psychotherapeut und Ambulanzleiter der LWL Klinik Bochum, Bert te Wildt, letzte Woche Dienstag im BlueSquare.
Ohne Handzettel oder Powerpoint-Präsentation begrüßte uns der Oberarzt – medienunabhängig wolle er angesichts des Themas präsentieren, erklärte er dem Publikum. Statt durch ständig wechselnde Beamerbilder abzulenken, fesselte er mit dieser Schlichtheit gekonnt unsere Aufmerksamkeit.
„Wie können wir die digitale Revolution so gestalten, dass sie möglichst wenig Schaden anrichtet?“, lautete seine Frage an diesem Abend. Denn sowohl die Fälle, die ihm tagtäglich in seiner Praxis begegnen, als auch die lange Warteliste der Suchtambulanz zeigen deutlich, dass es zunehmend Handlungsbedarf gibt – vor allem im Bereich der Prävention.
Von Einwanderern und Eingeborenen
Die Erfindung und Verbreitung des Internets stellt laut te Wildt einen Sprung in der Menschheitsgeschichte dar. Denn das WWW schafft, was dem Buchdruck oder dem Fernsehen nicht möglich war – es lässt Darstellungs- und Kommunikationsmedium verschmelzen, sodass wir als UserInnen gleichzeitig EmpfängerInnen und SenderInnen von Informationen sind.
Unsere Eltern – und wir gewissermaßen auch – haben die strikte Trennung dieser zwei Medienformen noch erlebt. Wir „digitalen Einwanderer“ kennen sowohl die analoge als auch die digitale Kultur und haben gelernt, die Balance zwischen den jeweiligen Identitäten zu halten. Die Kinder von heute hingegen, die in die digitale Welt hineingeboren werden, agieren in dieser teilweise bereits, bevor sie überhaupt die analoge Realität vollends mit allen Sinnen entdeckt haben. Wer allerdings mit der wirklichen Welt nicht gut genug umgehen kann, hat ein erhöhtes Risiko, zu einem „digitalen Junkie“ zu werden.
Rollenspiele, Facebook und Cybersex
Das gängige Klischee von verwahrlosten ZockerInnen greift jedoch lange nicht mehr in jedem Fall. Internetabhängigkeit ist mehr als die Computerspielsucht meist männlicher Teenager, sie betrifft zunehmend auch junge Frauen und Männer mittleren Alters. Während laut te Wildt erstere zumeist dem „Spiel mit Masken, Identitäten und Beziehungsformen“ in sozialen Netzwerken verfallen sind, jagen letztere dem ultimativen virtuellen Sexabenteuer hinterher – trotz Job und PartnerIn.
Doch ist es gleich eine Sucht, wenn etwa 16 Stunden pro Tag in Onlinespielen geballert wird? „Nicht unbedingt“, betonte der Psychotherapeut, der neben seiner praktischen Tätigkeit auch rege zur Internetabhängigkeit forscht: „Entscheidend für die Diagnose einer Verhaltenssucht ist zum einen der subjektiv erlebte Kontrollverlust und zum anderen die Schädigung verschiedener Lebensbereiche.“ Wer gekündigt oder zum Studienabbrecher wird, so gut wie keine realen Sozialkontakte mehr pflegt und in Extremfällen tatsächlich körperlich verwahrlost, kann als internetsüchtig bezeichnet werden – und sollte dringend professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, um den Leidensdruck zu mindern und zunehmend wieder das reale Leben anpacken zu können.
Lebe analog statt digital!
Denn genau mit realen Sozialkontakten tun sich Betroffene bereits vor dem Abgleiten in die Sucht schwer – als Risikogruppe für Internetabhängigkeit gelten vor allem junge Menschen, die auf Grund von fragilem Selbstbewusstsein schüchtern und unsicher sind. Bewegen sich diese in einem sozialen Umfeld, in dem das einsame Chatten oder Surfen dem analogen geselligen Miteinander vorgezogen wird, sodass das Suchtmittel Internet zudem auch noch immer verfügbar ist, so kann sich schnell eine Abhängigkeit von Onlinespielen oder Facebook & Co. entwickeln. „Es ist einfach, sich in der virtuellen Welt etwa Likes abzuholen oder mit seinem Avatar Gegner zu dominieren“, so Bert te Wildt: „Vor allem, wenn wir in der realen Welt nicht so gut ankommen.“
Doch gerade wie letzteres funktioniert, sollten Kinder lernen, bevor sie digitale Medien intensiv nutzten, warnte der Therapeut. Indem Heranwachsende die analoge Welt mit ihren Sinnen entdecken, merken sie, dass ihr Handeln tatsächliche Veränderungen herbeiführen kann. Diese so genannte Selbstwirksamkeit sei laut te Wildt ein wichtiger Schutzfaktor vor einer späteren Internetabhängigkeit. Deshalb appellierte er an die (zukünftigen) Eltern und Großeltern im Publikum, Kindern bereits früh Lust auf die analoge Welt zu machen, um dem Einfluss der digitalen Medien genug Gewicht entgegen zu setzen. Denn te Wildt sieht die zunehmende Virtualisierung unseres Alltags kritisch: „Das Internet ist unheimlich billig. Realität wird in Zukunft immer kostbarer werden – bis sie irgendwann der echte Luxus sein wird.“
Infobox
Die Internetabhängigkeit ist eine Verhaltenssucht, die meist nicht auf das WWW als Großraum gerichtet ist, sondern sich auf bestimmte Bereiche beschränkt – etwa Rollenspiele, soziale Netzwerke, Cybersex oder gar Onlineshopping. Laut Schätzungen leiden 1 – 1,5 Prozent der zwischen 14- und 65-Jährigen unter ihren Folgen. Noch ist sie offiziell nicht als psychische Erkrankung im Diagnosemanual aufgenommen; bei den meisten Betroffenen lassen sich jedoch zusätzlich Angststörungen oder Depressionen erkennen. Behandelt wird die Internetabhängigkeit entweder ambulant, in Gruppen oder in spezialisierten Kliniken. Therapieziel ist dabei nicht nur, das Suchtverhalten zu reduzieren, sondern auch die dadurch gewonnene Zeit mit Aktivitäten in der realen Welt nutzen zu lernen.
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