Pauken statt Pütt: In seinem autobiographischen Schmöker „Ein Anti-Heimat-Roman. Bildungsreisen durch ein unbekanntes Land 1943-2014“ eröffnet Willi Bredemeier den Wandel des Ruhrgebiets von der Bergbau- und Industrieregion zur Informations- und Bildungsgesellschaft. Er liefert detaillierte Einblicke in Nachkriegszeit, Strukturwandel und Studierendenrevolte.
Gerd Arntz sitzt in den Redaktionsräumen des AStA als ein Anruf aus Berlin eingeht: Rudi Dutschke wurde angeschossen. Zusammen mit dem damaligen AStA-Vorsitzenden Ronald Murawski klappert er die Wohnheime ab, um die Studierenden, die während der Osterferien in Bochum geblieben sind, zu einer Demo aufzurufen: „Gegen 23 Uhr marschieren wir die Hauptgeschäftsstraße der City entlang. Vorneweg tragen Murawski und ich ein Transparent mit der Aufschrift ‚Wider den Imperialismus an unseren Schulen‘. Anschließend fahren wir in die Metropole der Region, um die Auslieferung der regionalen Ausgabe der BILD-Zeitungs zu verhindern.“
Die Studierenden-Proteste, die ab 1967 die Bundesrepublik aufmischen, machen auch in Bochum nicht halt – auch an der jungen Ruhr-Universität herrscht Ausnahmezustand: In der Mensa wird versucht, auf Miniatur-Ebene die herrschaftsfreie Gesellschaft vorwegzunehmen. Auf dem Dach der sozialwissenschaftlichen Fakultät wird regelmäßig die rote Fahne gehisst – ein Bild das die regionale Zeitungen gerne bringen. Lange währt die Bambule in Bochum nicht, zumindest nicht für den Hauptprotagonisten Arntz, der sich mit Blick auf das Foto als einer der Dantons der Revolte wähnt. Denn die Karriere im Wissenschaftsbetrieb erscheint ihm dann doch lukrativer; sein einstiger Weggefährte der Revolte enttarnt ihn, als er ihn beim Lesen erwischt, als Konterrevolutionär: „Du bist zu Popper übergelaufen.“ Schnell kehrt dieser Arntz wieder zu seiner Leidenschaft zurück: Dem Lesen. „Wir treiben die Revolution voran und du liegst hier herum und schmökerst?“ – „Warte einen Moment“, antwortet der Eigenbrötler, „Ich baue mit euch gleich die neue Gesellschaft auf. Es sind nur noch 500 Seiten.“
Wandel des Ruhrgebiets
500 Seiten sind es auch, durch die sich der Leser schmökern muss: Willi Bredemeiers stark autobiographischer „Anti-Heimat-Roman“ schickt sein Alter Ego in die „Bildungsreisen durch ein unbekanntes Land.“ Dabei steht nicht zuletzt das Lesen im Vordergrund – eine Disziplin, mit der aus der Ich-Perspektive des bibliophilen Proletarierkindes auch die Dekonstruktion der Ruhrpott-Folklore als eine Region, die nicht vom Kohlebergbau zu trennen ist, betrieben wird. Denn eigentlich entstand das trivialliterarische Genre des Heimatromans im 19 Jahrhundert als künstlerische Bemühung, der zunehmend urbanisierten und industrialisierten Gesellschaft eine eskapistische (letztendlich reaktionäre) Welt entgegenzusetzen. Von daher ist die Idee, dies in Form eines „Anti-Heimatromans“ auch für den Ruhrpott aufzugreifen, gar nicht so schlecht. Was Bredemeier der Ruhrgebietsfolklore von Kohle- und Stahl-Malochern entgegensetzt, ist in erster Linie ein bildungsidealistischer Pathos, der nicht selten mit seinen großzügigen Leseerfahrungen ausgeschmückt wird.
Kronen-Bier, Landleben und Lokalredaktionen
Der Protagonist wächst, genauso wie Willi Bredemeier, über einer Kneipe mit Dortmunder Kronen auf. Als Spross einer proletarischen Familie wächst er in einer bildungsfernen Umgebung auf. Seine Kindheit verbringt er dann in der norddeutschen Provinz, wo er bei Verwandten aufwächst. Die Bildungsrevolution, von der immer wieder die Rede ohne ist, ( auch wenn nach 500 Seiten nicht wirklich klar wird, was sie denn nun ist) wird auch seinen Lebensweg beeinflussen: „Ich trete in ein paralleles Universum aus Buchstaben, Worten, Bildern und Geschichten ein. So verdoppele ich mein bisheriges Leben.“ Zurück im Ruhrgebiet gelangt sein Protagonist über den zweiten Bildungsweg in einem Abendgymnasium etwa in einer Versicherungswirtschaft, in verschiedenen Lokalredaktionen bis hin zur wissenschaftlichen Karriereleiter an der neu gegründeten Ruhr-Universität.
Mit seinem autobiographischen „Anti-Heimat-Roman“ liefert Bredemeier eine fast schon detailversessenene Chronik des Ruhrgebietes – von der Armut in der Nachkriegsgesellschaft über den Alltag in der Versicherungswirtschaft bis hin zum sozialdemokratischen Machtklüngel in der Lokalpolitik. Bei dem großen Personenverzeichnis wie den vielen Themenfelder, die er mit seinem Panorama eröffnet, hätte man sich zuweilen gewünscht, dass der der Fokus des Romans besser auf weniger Themen gelegen hätte. So lässt Bredemeier viele Etappen der Ruhrpott-Geschichte aus autobiographischer Sicht ausführlich Revue passieren – für manche Themen hätte es eigentlich ein Extra-Sachbuch benötigt. Mit seinem „Anti-Heimat-Roman“ präsentiert Willi Bredemeier eine detailverliebte Archivarbeit; als Erzähler ist er ein unbekümmerter Archivar, der seinen LeserInnen allles, was er in seinem Ruhrpott-Leben aufgesaugt und erlebt hat, mitzuteilen hat. Das braucht dann auch mal 500 Seiten.
Ein Anti-Heimat-Roman – Bildungsreise durch ein unbekanntes Land
2014, 505 Seiten, softcover
19,50 €
:Benjamin Trilling
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