Bretter oder Bits und Bytes der Welt: In Podiumsdiskussionen, Performances und Filmen ging das diesjährige NRW-Theatertreffen im Schauspielhaus Dortmund vom 13. bis zum 20. Juni unter dem Motto „Theater und Virtualität“ der Frage nach der Rolle des Theaters in der digitalisierten Alltagswelt nach. Daneben wurden herausragende Stücke aus den NRW-Schauspielhäusern zum Wettbewerb eingeladen. Der Jurypreis ging an die spannende Kapitalismuskritik „JR“. Sowohl den Publikums- als auch den Jugendjurypreis erhielt das Recherchedrama „Die deutsche Ayse“.
Für das Theater galt das schon immer: Ihre HeldInnen müssen geprüft werden. Vom Schicksal, vom Leben, vom Kapitalismus. Geprüft ist zuweilen die Institution selbst. Umso erstaunlicher ist daher, dass mit „JR“ eine letzte Uraufführung der Wuppertaler Bühnen überzeugt hat. Ein systemkritisches Stück eines Schauspielhauses, das längst der Rotstiftideologie zum Opfer gefallen ist, gewinnt den Jurypreis. Die multimediale Inszenierung schildert den Versuch des gleichnamigen elfjährigen „JR“, im Irrsinn des neoliberalen Systems Erfolg zu haben. William Gaddis 1975 erschienene Romanvorlage wird in der Bühnenfassung von Tom Peuckert und Regisseur Marcus Lobbe zu einem Kapitalismus-Kaleidoskop verdichtet, das die Sintflut eines gnadenlosen Zockersystems furios durchdekliniert. Das würdigte auch Theaterkritiker und Juror Sascha Westphal: „Es ist ein System, dem man sich nicht entziehen kann, das alles verschluckt.“ So finde man in „JR“ den „Kampf der Kunst in einem viel mächtigeren System, das über alles triumphiert.“
Dokumentarisches Migrationsdrama aus Münster
Regisseur Tuğsal Moğul bedankte sich dagegen dafür, mit seinem Rechercheprojekt „Die deutsche Ayse – Türkische Lebensbäume“ sowohl den Publikums- als auch den Jugendjurypreis erhalten zu haben: „Ich bin so froh, mit diesem Stück den Frauen auch ein Denkmal zu setzen.“ Moğul führte Interviews mit Freundinnen seiner Mutter, um authentisch die Ängste und Hoffnungen der Frauen der ersten EinwanderInnengeneration zu thematisieren. Herausgekommen ist ein nüchternes wie eindringliches Stück, – dokumentarisches Theater, das der Beschränktheit des Integrationsdiskurses, dem es nur um funktionierende Arbeitskraft geht, ganz ungetrübt Menschlichkeit entgegenhält.
Preise für DarstellerInnen und Ensemble an „Orestie“ und „Der gute Mensch von Sezuan“
Der Ensemblepreis ging an das Theater Oberhausen, das mit Simon Stones Inszenierung von Aischylos „Orestie“ vertreten war. Stefko Hanushevsky erhielt dagegen den Darstellerpreis für seine Leistung in „Der gute Mensch für Sezuan“. Die Adaption von Brechts Kapitalismusparabel überraschte mit dem Einsatz von Puppen, – ein Aspekt, der wie die Jury begründete, Brechts Rede davon, „das Zeigen zu zeigen“, eigensinnig aufgriff. Mit Gästen aus Kultur und Kunst wurden außerdem in Workshops unter dem Leitaspekt „Theater und Virtualität“ über Themen wie etwa Soziale Medien oder Live-Computerspiele diskutiert. Den analogen Raum der Virtualität als verheißungsvollen Zufluchtsraum vor der harten Realität streifte auch Nurkan Erpulats bei der Preisverleihung unberücksichtigte Inszenierung von Ödön von Horváths sozialkritischem Volksstück „Kasimir & Karoline“. „Meine Damen und Herren, kommen Sie herein, lassen Sie sich verführen“, verkündet der Kirmesveranstalter in Horváths Stück über die Arbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise, das nichts an Aktualität verloren hat. „Enjoy“, das ist auch hier der Imperativ einer entfremdeten Leistungsgesellschaft, welche die Bedingungen zum Leben und Lieben entzieht. „Wenn Du keine Liebe hast, steht auch kein Kapital dahinter“, wird resigniert verkündet, bevor das Theater dann zumindest hier den Gedanken der Revolte verkündet. Diese folgt mit Krawall statt Kritik, ohne Utopie. Umso treffender das Schlussbild: Es regnet Geld, das Glück bleibt aus. Eine unmenschliche Prüfung.
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