Bild: Pornographie oder Filmkunst? Lars von Triers „Nymphomaniac“ spaltet die Gemüter., Sex und Sühne: Lars von Triers „Nymphomaniac 1“ Foto: © Christian Geisnaes, Concorde Filmverleih

Da ist man quasi arbeitslos. Als Berufsprovokateur wie Lars von Trier hat man es wirklich nicht einfach in einer Gesellschaft, in der Psychologen Sexsucht und Soziologen eine Pornographisierung diagnostizieren. Kann man da noch mit Sex provozieren? Vielleicht. Man vermengt die Parameter: Ist das noch Filmkunst? Oder schon Pornographie? Lars von Trier bläst mit „Nymphomaniac“ zur intellektuellen Mobilmachung. Jedem Orgasmus sein Aphorismus, jedem Fellatio seine Sentenz. In einem über vierstündigen Zweiteiler werden hier vor allem provokativ Fragen aufgeworfen, die die Krux mit der Lust durchdeklinieren – wenn das absolute Begehren ins Leere läuft.

Märchenhaft-grotesk ist die Anfangsszene: Regen prasselt nieder, Schneeflocken folgen und bedecken einen Hinterhof, in dem Joe (Charlotte Gainsbourg) mit Schrammen und Blessuren im Gesicht danieder liegt, bis sie von einem gemächlich – von Rammstein-Musik untermalten – umher trottenden Samariter namens Seligmann (Stellan Skarsgård) aufgefunden wird, der die Hilfsbedürftige bei sich aufnimmt. In der warmen Stube verrät sie ihre ganzen Schuldgefühle. Der Alte kontert wie ein Mönch mit weisem Verständnis. Als eine Art Beichtvater hört er ihre (sexuelle) Lebensgeschichte, die in Rückblenden geschildert wird. Ihm erzählt sie von ihrer nymphomanischen Veranlagung, die schon mit dem achten Lebensalter einsetzte, vom Leidensdruck in ihrer Jugend, davon, wie sie den Automechaniker Jerome (Shia LaBoeuf) bittet, sie zu entjungfern. Irgendwann konkurriert sie mit einer Freundin, wer die meisten männlichen Zugpassagiere dazu bewegt, mit ihnen Sex zu haben.

Befriedigungsstagnation statt Subversion

Mit Gleichgesinnten formiert sie sich später unter dem Slogan „Maxima Vulva“ zu einer Art nymphomanischer Guerilla mit subversivem Clou. „Wogegen haben Sie rebelliert?“, fragt der weise Alte. Gegen die Liebe, so die Antwort. Mit ihrer Freundin überwirft sie sich, weil sie mit einem Mann mehr als einmal geschlafen hat, Sex und Liebe werden hier völlig entkoppelt und wenn der Verlust der Subversivität registriert wird, läuft auch das absolute Begehren in unbehagliche Leere. Übrig bleiben Schuldgefühle: „Ich bin ein schlechter Mensch“, wird resümiert.

Passionsgeschichten hat der Däne schon immer gerne durchexerziert. Von „Breaking the Waves“ bis hin zu „Dancer in the Dark“: Fleißig gelitten hatten seine Figuren regelmäßig. Genauso verstörend wurde das Leid jüngst in „Melancholia“ geschildert, wo er nicht nur das depressive Gemüt seiner Protagonistin beleuchtete, sondern nebenbei die Welt untergehen ließ. Zum Teufel mit der Menschheit, zum Teufel mit der Liebe! Was vielleicht mal utopischen Stoff geboten haben soll, wird in Zeiten, wo Sexualität zunehmend als Tauschwert abgezählt wird, auch bei von Trier als dumpfes Geficke aufgelöst.

Sex und Sentenzen

Das leere Begehren verläuft sich in die Sackgasse, findet seinen Wiederklang nur in Schuldgefühlen, Sexsucht artikuliert sich im Selbsthass. Begehren, Schuld, Sühne und die Frage nach Erlösung – das sind die Themen in „Nymphomaniac 1“. Als einer der letzten Kinophilosophen bringt Lars von Trier immerhin ein wenig Bewegung in den müden Feuilletonbetrieb.

Die Frage, die sich aufdrängt: Ist das nun Pornographie oder Kunst? Etwa ein Arthouse-Porno?

Zumindest ist von Triers Film ein provokativer Wink, der fast plakativ zur akademischen Reflexion einlädt. Freilich werden explizite Sex-Szenen aneinander gereiht, wird eine ziemlich dichte Orgasmus- wie Genitalien-Frequenz auf der Leinwand wiedergegeben, aber alles wird, nicht ohne Ironie, vulgärphilosophisch ausstaffiert. Seligmann beleuchtet anhand seiner Kenntnisse übers Fliegenfischen oder der Kirchengeschichte die (un-)vermeintliche Tiefe von Joes Sexeskapaden. Da ist es auch nicht weit her geholt, Joes entgleisende Promiskuität kulturgeschichtlich mit Johann Sebastian Bachs Polyphonie zu erörtern. Das untermauert nicht nur Joes Sex mit allen möglichen Typen, sondern motiviert auch von Trier zu Montagen, in denen in allen Positionen und Winkeln ausgiebig gevögelt wird.

Das ist letztendlich nicht nur eine provokative Fleischbeschau, sondern auch eine zerfahrene, intellektuelle Diskussion. Auch wenn nicht alles schlüssig ist. Vielleicht gibt von Trier in seiner Fortsetzung Antworten. Diese läuft Anfang April an.

Der Film läuft in Bochum unter anderem im Casablanca im Hauptbahnhof. Vorstellungen jeweils um 18 und 20.30 Uhr.
 

0 comments

You must be logged in to post a comment.