Ein Antik-Trödelmarkt unter der Berliner Mittagssonne bildet den Schauplatz einer bemerkenswerten Szene von Alice Agneskirchners Film „Ein Apartment in Berlin“. Die drei jungen israelischen ProtagonistInnen Eyal, Yoav und Yael wühlen neugierig in den Kartons herum. Herausgegraben wird allerlei: antiquierte Bücher, verstaubte Bilder und alte Fotoalben. Dann stößt Yael auf einen Kerzenständer, an dem jemand etwas abgebrochen hat – einen Davidstern. Bedeutungsschwanger erfasst die Kamera die Szenerie, nähert sich Yaels Gesicht, bis Regisseurin Agneskrichner mit bemühtem Mitgefühl fragt, was sie denn nun empfinde. „Was soll ich denn schon empfinden“, fragt Yael etwas hilflos zurück. Fast überrumpelt wirkt sie von diesem Erwartungshorizont, der doch nur Eines ausdrückt: Die große Kluft zwischen der Holocaust-Wahrnehmung der Israelis und der Deutschen.
Dabei lag dem Trödelmarktbesuch eine ganz andere Motivation zugrunde. Hier sollten mögliche Requisiten gesammelt werden, um eine jüdische Familienwohnung vor der faschistischen Usurpation zu requirieren. Ausgangspunkt sind Archivforschungen Agneskirchners, bei denen sie auf Listen stieß, die jüdische Familien anfertigen mussten, bevor sie gezwungen wurden, ihre Wohnungen zu verlassen. Was können diese alltäglichen Dinge wie Schränke, Kleidung, Lampen, Schmuck oder Bücher über das Leben vor über 70 Jahren aussagen? Wie hat eine solche jüdische Familienwohnung ausgesehen? Als Agneskirchner auf die Geschichte der Familie Adler stößt, wird das Projekt konkret: Als Kaufleute handelten die Adlers mit Eiern und gehörten zum Mittelstand, doch nach der Machtergreifung änderten sich ihre Lebensumstände zusehends. Nachdem sie aus ihrer Wohnung vertrieben wurden, folgte die Deportation und die Ermordung in Auschwitz.
ProtagonistInnen verweigerten sich dem Repräsentationsschema
Um das Wohnungsleben wieder auferstehen zu lassen, suchte Agneskirchner drei junge Israelis auf, die aus unterschiedlichen Gründen in Berlin leben. Zunächst machen die drei mit, helfen, die Wohnung einzurichten und flanieren mit der Kleidung der 30er über die Berliner Straßen, erwecken die vergebliche Suggestion, als gäbe es noch dieses Leben vor der Shoah. Doch schnell haben die ProtagonistInnen keine Lust mehr, sich derart mit den Opfern des Holocaust zu identifizieren, nur weil sie Israelis sind: „Es ist, als müssten wir diejenigen repräsentieren, die gestorben sind“, beklagt sich Yael bei Agneskirchner, die als Regisseurin oft vor der Kamera mitagiert, versucht, das Projekt stark zu inszenieren und von ihrer eigenen, biographischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust berichtet. Es ist diese Mentalität einer Kollektivschuld der Deutschen, von der Agneskirchner ausgeht, mit der sie den drei Israelis begegnet und gleichzeitig ein Korsett schnürt, in das sich die drei Protagonisten nicht einordnen lassen wollen: „Dein Holocaust ist nicht mein Holocaust“, schmettert ihr Yoav entgegen.
Befreiung von Rollenmustern
Das Leben in Berlin scheint für alle drei doch zu spannend zu sein, um sich in diese Repräsentationsmuster einordnen zu lassen. Am interessantesten ist der Film dann, wenn die Maßstäbe der Inszenierung aufgebrochen werden, wenn die Hauptfiguren, auch in Bezug auf den Nahostkonflikt, miteinander diskutieren. Wenn Eyal, der, bevor er fürs Studium nach Berlin kam, in der israelischen Armee war, kritisch die zwei üblichen Schlüsse erwähnt, die man in Israel dem Holocaust abgewonnen hat: „Das darf nie wieder geschehen, das darf uns nie wieder geschehen.“
Das Leben verweigert sich hier der filmischen Inszenierung, und das ist der interessante Clou des Films: Seine Protagonisten sind klüger als er selbst. Der Historiker Yoav drückt diesen Widerwillen, sich in die deutschen Erwartungsmuster einzuordnen und das Opfer spielen zu müssen, am eigenwilligsten aus, wenn er statt in die Kaufmannstracht der Adlers in eine NS-Uniform schlüpft, um damit einen Spaziergang durch die Straßen Berlins zu wagen. Dass die Reaktionen mehr als gespalten ausfallen, war dabei zu erwarten. Yoavs Beweggründe werden nicht ganz erschlossen, vor allem nicht in den Gesprächen mit Agneskirchner: „Du kennst nicht die Schmach, das Opfer zu sein.“ Die Interviews mit Yoav sind ein spannendes Antasten an seine Wahrnehmungen und Erwartungen, als längst klar geworden ist, dass das Projekt einer gemeinsamen Erinnerung nicht aufgegangen ist. Mühselig sind diese Annäherungen.
:bszinfo
Das Dokufilm-Festival „Stranger than Fiction“ läuft noch bis zum 16. Februar. Spielorte sind unter anderem das Endstation-Kino in Bochum-Langendreer, das sweetSixteen (Dortmund), das Filmstudio Glückauf (Essen) oder das Riofilmtheater (Mülheim).
Mehr Infos unter:
strangerthanfiction-nrw.de
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