Bild: „St. Pauli bleibt widerborstig“: Fußballfans als Eskalationsvorwand?, Vier schwelende Konflikte entfachten im Dezember einen Hamburger Flächenbrand Bild: flickr/jense1 (CC BY-NC 2)

In der vergangenen Woche sind tausende HamburgerInnen auf die Straße gegangen, um gegen ein am 4. Januar durch die Polizei eingerichtetes „Gefahrengebiet“ zu protestieren. Zunächst in weiten Teilen der Innenstadt (Altona, St. Pauli, Sternschanze), später nur noch im Umfeld „gefährdeter“ Wachen, durften PolizeibeamtInnen präventiv Personenkontrollen durchführen und Platzverweise erteilen. Am Montag hat die Polizei auch die Gefahrengebiete im Bereich der Kommissariate aufgehoben. Ein Anlass zur Einrichtung des Gefahrengebiets war eine eskalierte Großdemonstration am 21. Dezember 2013. Rund 8.000 DemonstrantInnen wollten für den Erhalt des linken Kulturzentrums Rote Flora, das Bleiberecht der Lampedusa-Flüchtlinge und gegen die Hamburger Mietpreisentwicklung demonstrieren. Dabei wurden etwa 700 Menschen verletzt.

Hinzu kommen zwei mutmaßlich linksautonom motivierte „Angriffe“ auf die Davidwache im Stadtteil St. Pauli vom 20. und 28. Dezember. Jetzt schaut das ganze Land auf die Hansestadt, stellt Fragen nach Schuld und Verhältnismäßigkeit an DemonstrantInnen, Polizei und Senat. Kritik wurde unter anderem von der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer PolizistInnen geäußert. Sie macht die Hamburger Polizei für das Eskalieren der Demo am 21. Dezember verantwortlich und tadelt die Einrichtung von Gefahrenzonen als einen Schritt „weg von zivilisatorischen Errungenschaften hin zu polizeistaatlichen Elementen.“ Der Senat verteidigt seinen Kurs. Die :bsz hat mit einem Hamburger Bürger über die Ereignisse gesprochen.

Als Augenzeuge des vermeintlichen zweiten Angriffs auf die Davidwache hat Arno Schmidt (Pseudonym, Klarname der Red. bekannt), der in Hamburg lebt und arbeitet, den Schilderungen der Polizei bereits gegenüber dem Spiegel und dem Nachrichtenportal Publikative.org widersprochen. Am Abend des 28. Dezember 2013 war er mit einem Freund auf der Hain-Heuer-Straße in Richtung Reeperbahn unterwegs, als die beiden Anti-HSV-Gesänge hörten. Ecke Hain-Heuer/Seilerstraße stießen sie auf eine Gruppe Männer – „relativ verstreut, nicht geschlossen auftretend und nicht vermummt“. Einige darunter hatten einen Konflikt mit PolizistInnen: „Die haben sich angeschrien, diskutiert und gestikuliert“, so Schmidt. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine körperliche Auseinandersetzung. Nichts Besonderes also, für St. Pauli bei Nacht. Schmidt zog weiter zur Reeperbahn, als dort aus der Davidwache unverhältnismäßig viele BeamtInnen in Kampfmontur gestürmt kamen. Schäden an Polizeiwagen oder am Gebäude waren keine zu sehen. Ein weiterer Augenzeuge berichtet gegenüber Publikative.org, dass die Gruppe schreiend, aber ohne anzugreifen an der Davidwache vorbeigezogen sei, bevor Schmidt sie an diesem Abend in der Hain-Heuer-Straße gesehen haben muss.

Am darauffolgenden Tag gab die Hamburger Polizei in einer Pressemitteilung hingegen bekannt: „Beamte der Davidwache wurden aus einer Personengruppe heraus gezielt angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Zur Tatzeit skandierten 30 bis 40 dunkel gekleidete, zum Teil (u. a. mit St. Pauli-Schals) vermummte Personen in Sprechchören: ‚St. Pauli – Scheißbullen – Habt Ihr immer noch nicht genug‘. Als PolizeibeamtInnen daraufhin aus der Davidwache herauskamen, wurden sie an der Ecke Reeperbahn/Davidstraße (also unmittelbar vor der Wache, die Red.) gezielt und unvermittelt mit Stein- und Flaschenwürfen angegriffen.“

:bsz Wie lassen sich diese voneinander abweichenden Darstellungen erklären?

Arno Schmidt: Niemand überfällt eine Wache unvermummt und singt dabei Anti-HSV-Lieder. Und danach trottet man nicht gemütlich die Hain-Hoyer-Straße runter und diskutiert nochmal mit den Beamten. Ich glaube, die Polizei ist an dem Abend in eine Schlägerei geraten: Da kam eine größere Gruppe schreiend vorbei und die Beamten haben überreagiert. Dann hat sich das hochgeschaukelt. Die haben sich das so zurechtgelegt, dass es ihnen in den Kram passt.

Offenbar gab es 2013 monatelang eine „Gefahrenzone“ um das Schanzenviertel wegen angeblichen Drogenhandels. Hat die Polizei eine Falschaussage diesmal überhaupt nötig gehabt?

Durchbekommen hätten sie ihr Gefahrengebiet, klar. Aber die Rechtfertigung vor der Öffentlichkeit wäre in diesem Fall schwieriger gewesen. Dazu musste gezeigt werden, dass „die Linken“ auch nicht vor Gewalt gegen Personen zurückschrecken und sogar gezielt angreifen. Die Demo konnte nur halbwegs als Rechtfertigung gelten, denn da gab’s auch deutliche Kritik am Vorgehen der Polizei.

Nun steht der Senat an der Wand und die Leute gehen auf die Straße. Auch wenn der kreative Protest gegen die Polizeimaßnahmen richtig ist – die ursprünglichen Konflikte sind im Spektakel der vergangenen Tage untergegangen. Wie steht es derzeit um die Lampedusa-Flüchtlinge?

Auf dem Gelände der St.-Pauli-Kirche stehen nun Wohncontainer für die Flüchtlinge für die Wintermonate. Da haben sich Kirche und Bezirk durchgesetzt. Aber es gibt natürlich immer noch keine wirkliche Lösung.

Wie bewerten Sie den Flora-Konflikt?

Die Flora gehört einem privaten Investor, der vermutlich Geld rausschlagen will. Der Bezirk hat den Bebauungsplan so geändert, dass er die Flora nicht abreißen und da auch sonst nichts anderes machen kann. Viele gehen davon aus, dass er an die Stadt verkaufen will. Die hat sich angeboten. Ich vermute, dass er mit gezielten Provokationen den Kaufpreis hochtreiben möchte.

Warum ist der Konflikt um die Esso-Häuser so stark aufgeladen?

Immer mehr Menschen im Stadtteil sind von den steigenden Mieten oder sogar von Verdrängung betroffen. Die Sozialstruktur ändert sich. Sie wird gefühlt homogener. Neubauprojekte haben ja nicht nur den Nachteil, dass die Mieten in den Häusern direkt viel höher sind, sondern sie strahlen ja auch auf die Umgebung aus. Die Mieten steigen auch in den anliegenden Straßen. St. Pauli ist auf der Kippe. Das merken viele Leute die den Stadtteil lieben. Ich glaube, es werden an allen Themen auch grundsätzlichere Dinge ausgehandelt. In den vergangenen Jahren ist hier viel passiert, viele Leute schauen sich die Prozesse genau an. Es gab zahlreiche gute Proteste und inhaltliche Arbeit. Aber am Ende hat es nicht das gebracht, was sich die Menschen versprochen hatten.
Wenn man jetzt abends durch St. Pauli geht, dann sammeln sich immer wieder Leute, um zu protestieren. Mal als Fahrradtour, mal als Spaziergang. Das sind sehr unterschiedliche Menschen, das finde ich überraschend und schön.

Das klingt sehr friedlich, aber rund 700 Verletzte bei der Demo am 21. Dezember 2013 sind Fakt.

Ja, das ist heftig und nicht gut. Ich glaube, die Polizei wollte die Demo im Schanzenviertel behalten und hat bewusst eskalieren lassen. Der Einsatzleiter ist anscheinend eine recht spezielle Person. Vorsichtig gesagt scheint sein Verhältnis zu „Linken“ nicht übermäßig von Sympathie geprägt zu sein. Und wenn ich dann höre, dass die Polizei Leuten gegen die Schienbeine tritt und denen, die Transparente halten, gezielt auf die Hände haut, so dass es zu Brüchen kommt, kann ich verstehen, dass man in der Situation vielleicht nicht besonnen und reflektiert genug bleibt.
Am Ende glaube ich, es wäre viel weniger passiert, wenn die Polizei auf Deeskalation gesetzt hätte. Sicherlich wäre einiges zu Bruch gegangen. Es waren 8.000 Demonstranten und es ging um die Flora … Ein Wunder, wenn da nichts passiert wäre. Da braucht man sich nur die Geschichte der Flora anzuschauen. Das ist auch eine Geschichte, in der Militanz immer eine Rolle gespielt hat. Ohne Militanz und auch ohne das Drohszenario von „Riot“ gäbe es die Flora wohl nicht. Die Demo war ja auch ein Zeichen, dass die Flora sehr viele UnterstützerInnen hat. Eine Ansage. Eine Räumung würde wohl eine noch breitere Mobilisierung nach sich ziehen.
 

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