Sie hat über 70 Kindern das Leben gerettet, selbst im Ghetto noch die Kinder unterrichtet und für die Alten Kräuter gesammelt und ihnen Tee gekocht. Trotzdem kennt sie heute kaum noch jemand: Else Hirsch war von 1927 bis 1942 Lehrerin und Hoffnungsspenderin für die jüdische Gemeinde in Bochum. ZeitzeugInnen lobten ihre Arbeit und ihren Einsatz außerhalb der Schule. Heute erinnern bloß noch ein „Stolperstein“ sowie ein Straßenname an sie. Fast wäre auch ein Preis des Freundeskreises der Bochumer Synagoge nach ihr benannt worden. Unverständlicherweise nur fast.
Else Hirsch wurde am 29. Juli 1889 im mecklenburgischen Bützow geboren, in Schwerin wurde sie Lehrerin. Obwohl sie durchaus auch an höheren Schulen unterrichten durfte, wurde sie 1927 an die israelische Volksschule in Bochum versetzt. Volksschule, das war damals die Grundschule bis zur vierten bzw. achten Klasse. Und dann noch so weit weg von der Heimat. Missmutig nahm sie die Stelle an, doch schon bald machte sich Else Hirsch für die jüdische Gemeinde in Bochum unentbehrlich.
„Richte nicht den Wert des Menschen / schnell nach einer kurzen Stunde“
Wer sie gekannt hat, beschrieb sie als äußerlich unscheinbar. Ein ehemaliger Schüler erinnert sich an „eine altjüngferliche Lehrerin, die sich unvorteilhaft kleidete und frisierte, die eigentümliche Gewohnheiten hatte und über die man sich lustig machte“. Sie selbst schrieb einer Schülerin ins Poesiealbum: „Richte nicht den Wert des Menschen / schnell nach einer kurzen Stunde / Oben sind bewegte Wellen / doch die Probe liegt im Grunde“. Dass das keine leeren Worte waren, musste sie schon bald und intensiv unter Beweis stellen.
Die Nationalsozialisten setzten der jüdischen Bevölkerung bis hin zur Unmöglichkeit des Lebens zu. Bis 1934 hatte bereits ein Viertel aller Juden und Jüdinnen die Stadt verlassen. Schließlich wurde die israelische Volksschule, die am westlichen Ende des heutigen Dr.-Ruer-Platzes stand, erst in der Reichspogromnacht am 9. November 1938, wie die benachbarte Synagoge, verwüstet und schließlich, im Juli 1941, geschlossen.
Dass die Verfolgung von Jüdinnen und Juden damit noch nicht ihren traurigen Höhepunkt erreicht hatte, schien Else Hirsch vorhergesehen zu haben. Schon früh gab die sprachbegabte Frau neben Hebräischunterricht auch außerschulische Englischstunden. Dies war ab einem gewissen Zeitpunkt konkrete Vorbereitung für eine beispielhafte Rettungsaktion. Nicht alle jüdischen Familien konnten sich die Auswanderung leisten oder sie fanden niemanden, der oder die für sie vor den ausländischen Behörden bürgen konnte. In England entstand eine „Sorge für Kinder aus Deutschland“-Bewegung, die wenigstens diesem Teil der verfolgten Bevölkerung helfen wollte. Else Hirsch und die Gemeindesekretärin Erna Philipp organisierten die sogenannten Kindertransporte aus Bochum nach England. Ein großer logistischer Aufwand – und eine seelische Belastung für die Familien. Eltern trennten sich von ihren Kindern, um sie zu retten. In den meisten Fällen blieben die England-Kinder die einzigen Überlebenden aus diesen Familien.
Mit zehn Transporten von 1938 bis 1939 retteten die beiden Frauen das Leben von über 70 Kindern aus Bochum und Herne. Erna Philipp selbst nutzte die Gelegenheit, vom elften Transport nicht zurückzukehren. Wohl aus Verantwortungsbewusstsein blieb Hirsch noch im Reich, aus Sorge um die Verbliebenen.
Hehres Leben, Todesumstände unbekannt
Lange Zeit hat man angenommen, dass die tapfere Lehrerin in Theresienstadt oder Auschwitz umgekommen sei. 1998 wurde die Petersstraße in Bochum-Wiemelhausen in Else-Hirsch-Straße umbenannt; das Hinweisschild enthält immer noch die Information „Verstarb im KZ Theresienstadt“. Dabei gilt mittlerweile als gesichert, dass „Frl. Hirsch“ ins Ghetto ins lettische Riga deportiert worden ist. Überlebende bezeugten, dass sie noch unter den dortigen widrigen Umständen weiter unterrichtet, etwas normalen Alltag in den Wahnsinn gebracht, Hoffnung gegeben hat. Sie sammelte Brennnesseln und andere Kräuter, um Mahlzeiten oder Tee für die Kranken und Schwachen im Ghetto zu organisieren.
„Es spricht vieles dafür, dass Else Hirsch zur Zeit der Auflösung des Rigaer Ghettos in der zweiten Jahreshälfte 1943 schon nicht mehr lebte“, schreibt Clemens Kreuzer in einer Veröffentlichung. „Vielleicht endete sie in einem der Massengräber des Hochwaldes von Bikernieki.“
Nächstenliebe vor Politik
Gisbert Baranski ist Mitglied des Freundeskreises Synagoge Bochum e. V. und hat angeregt, einen Preis auszuschreiben, der Schülerinnen und Schülern verliehen wird, die sich mit Projekten zum Gedenken an die Pogrome und zur Toleranz unter den Religionen verdient machen. Dieser Preis sollte nach einer Frau benannt werden, schlug er vor, und erfuhr dabei vom Schicksal der Else Hirsch. Der Preis wurde letztlich nach Otto Ruer, einem ehemaligen Bochumer Bürgemeister, benannt – seitdem strebt Baranski eine Namensänderung des Preises an; Else Hirsch müsse mehr geehrt werden: „Dr. Otto Ruer hat für Schüler keine Bedeutung; Else Hirsch aber hat Vorbildcharakter für junge Leute.“
0 comments