Vor zwölf Jahren griffen der Regisseur Roger Vontobel und die Schauspielerin Jana Schulz in ihrer ersten Zusammenarbeit Gotthold Ephraim Lessings Einakter „Philotas“ (1758) auf und mischten das Aufklärungsstück mit der Geschichte des jungen Amerikaners John Walker Lindh, der für Schlagzeilen sorgte, als er im Afghanistankrieg auf den Seiten der Taliban gegen das US-Militär kämpfte. Die Inszenierung „[FI‘LO:TAS]“ des Theater-Duos Vontobel/Schulz wurde gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet. Im Rahmen der Lessingtage wurde das Stück wieder am Hamburger Thalia-Theater aufgeführt. Nun gastierte das Duo auch in den Bochumer Kammerspielen.
„Wie man zu sterben lernt“ – das ist die Frage, die sich ein Soldatenwesen stellt, verzweifelt, zerrissen, inmitten einer kleinen Fläche Sand, daneben ein Stuhl. Aus dem Off ist mit Tonrauschen die Hintergrundgeschichte zu hören: John Walker Lindh, 1981 in Washington D.C. geboren, in einem bürgerlichen Milieu aufgewachsen, katholisch erzogen, konvertierte 1997 zum Islam und ging um die Jahrtausendwende in Pakistan auf eine islamistische Schule, wo er sich radikalisierte und sich irgendwann den Taliban anschloss.
Für beeindruckendes Theater braucht man nicht viel. Jana Schulz stellt das an diesem Abend unter Beweis. Dazu braucht es nur ein Requisit, einen Stuhl, der mal als Flagge dient, mal als Schwert oder als Sprengkörper, der vor allem aber regelmäßig zertrümmert wird – zur Wutentladung. Denn es ist vor allem die enorme physische Wucht, mit der Schulz das Psychogramm dieses jungen Gotteskriegers räumlich entfaltet.
Lessings Aufklärungsstück – aktueller denn je
Dass gestorben werden muss, steht fest: „Ein kindlicher Einfall, vielleicht, aber auch ein glücklicher, weil ich noch keine glücklicheren gehabt habe.“ Der Krieg wird hier aufs Wesentliche eingedampft. Lessings Einakter „Philotas“ liest sich als Parabel auf den Wahnsinn des Kriegs, als Antikriegsstück und ist damit aktueller denn je. Lessing erzählt vom gleichnamigen Königssohn, der wegen seines Übereifers im Krieg in feindliche Gefangenschaft gerät, durch seinen Vater aber freigekauft werden kann. Hin- und hergerissen vom Wunsch, in der Gunst seines Vaters zu stehen und ihm nicht als Faustpfand in feindlicher Hand einen Nachteil zu verursachen, wählt er den Freitod, das Märtyrertum, um seinem Vater einen Vorteil im Krieg zu verschaffen.
Fokus auf das Erwachsenwerden
„… Krieg … Krieg … mein Vater und ich.“ Vontobel arbeitet nur lose am Text Lessings, überträgt aber dessen Patriotismusdrama auf die politische Gegenwart, indem er die Frage nach dem Erwachsenwerden aufgreift, verknüpft mit dem Nachforschen nach der Tatmotivation des jungen amerikanischen Talibans Lindh. „Was wollte ich denn werden?“ – wiederholt wird diese Frage in den Raum geschleudert, als tragische Perspektivlosigkeit in einem rund einstündigen Monolog entbrannt. Wofür lohnt es sich zu sterben? Geklärt wird das ohne Dialogpartner, die existenziellen Fragen verpuffen im Echo, das Publikum wird paralysiert zurückgelassen.
Perspektivlosigkeit und Nihilismus
Absurd wird es, wenn die Frage nach Anerkennung und Identität diesen verlorenen Märtyrer dazu treibt, darüber zu fabulieren, wie es denn sei, Superman zu sein, mit dem Vermögen, jedeN, ja, die ganze Welt zu retten. Denn die Welt zu retten, das ist die Mission, die dieser Gotteskrieger sich selbst auferlegt; schließlich final verkündet, als heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Die Welt zu retten, das ist auch die Prämisse, die sich die Kulturen, zwischen denen Schulz‘ Talibankämpfer hin- und hergerissen ist, auf die Fahnen geschrieben haben. Nihilistisch sind sie beide – egal, ob radikaler Islamismus oder westlicher Kapitalismus, Dschihad oder Superman. Nihilismus, verkauft als Patriotismus, als Dschihadismus oder westlicher Imperialismus, das wird hier auf die Tragödie eines Menschen verdichtet.
Nach zwölf Jahren hat Vontobels Lessing-Adaption nichts an Aktualität eingebüßt. Unmittelbar nach dem 9/11- Trauma entstanden, vor dem Hintergrund der Feldzüge der damaligen Bush-Administration aufgeführt, gelingt es dem Stück nach wie vor, die patriotischen oder religiös-fundamentalistischen Heilsversprechungen als nihilistische Perspektivlosigkeit zu entlarven. Auch Lessings Humanismus ragt wie ein Stachel in das heutige Lügennetz, den paradiesischen Verheißungen der Mudschaheddin oder der westlich-medialen Rede vom Friedenseinsatz.
Das ist auch, neben der unglaublichen Jana Schulz, die Entdeckung des Abends: die Aktualität des Stücks.
Nächster Termin: 15. Januar, 19.30 Uhr, Kammerspiele im Schauspielhaus Bochum, Königsallee 15 Eintritt für RUB-Studis frei (dank Theaterflat), sonst ab 11 Euro, ermäßigt ab 7 Euro
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