Trotz all der Sequels, Comicverfilmungen und TV-Recycle-Produkten, mit denen das Mainstreamkino den Markt überschwemmt, hat sich ein sozialkritischer Arthouse-Film eine Nische im Gegenwartskino erobert. Galionsfiguren des britischen Sozialdramas wie Ken Loach („Ladybird Ladybird“) oder Mike Leigh („Naked“) zeigten in ihren Filmen die Misere der britischen Unterschichten. Auch die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne („L‘enfant“) oder RegiseurInnen des jeune cinéma français (z. B. Mathieu Kassovitz’ „La Haine“) griffen diese gesellschaftskritischen Aspekte auf und initiierten eine Renaissance des sozialrealistischen AutorInnenfilms. Mit Wucht, nah am Lebensalltag, zuweilen kapitalismuskritisch, kommt nun das jüngste mexikanische Kino daher, so auch das Spielfilmdebüt des Dokumentarfilmers José Luis Valle – ein kleines Kinojuwel.
Endlich ist es soweit, der Fabrikarbeiter Rafael (Jesús Padilla) steht vor seiner Pension, wofür er sämtliche Vorkehrungen trifft: Er kauft sich extra neue Schuhe und lässt sich zur Erinnerung ein Tattoo stechen. 30 Jahre hat er gewissenhaft für seinen Arbeitgeber geschuftet, ohne einen Tag krank zu sein, ohne einen Tag Urlaub genommen zu haben. Als er nun mit der Forderung, seine Rente zu erhalten, vor seinem Chef sitzt, muss dieser ihn enttäuschen. Rafael hat als illegaler Einwanderer kein Recht auf Rente. Aber sein Chef gibt zu wissen, dass er sich nicht an die Behörden wenden wird und ist sogar so gnädig, ihn weiterarbeiten zu lassen.
Alles für Princesa
Die ungefähr gleichaltrige Lidia (Susana Salazar) arbeitet ebenso seit 30 Jahren für eine steinalte und todkranke Dame, die ausschließlich für Princesa, ihre Hündin lebt. Dem Wohlergehen von Princesa ist alles untergeordnet: Ihr exakt abgewogenes Filetfleisch frisst sie aus vergoldeten Näpfchen, jeden Tag wird sie im Mercedes spazieren gefahren, damit sie den abendlichen Sonnenuntergang bestaunen kann; vor allem soll die Hündin davor bewahrt werden, die hässlichen Seiten Tijuanas sehen zu müssen. Als die Herrin stirbt, wird Lidia und den anderen Hausangestellten das Testament vorgelesen: Das gesamte Erbe geht an die Hündin Princesa; die zehn Arbeiter erben den Besitz der Herrin erst nach dem Ableben der Hündin – „natürlich eines natürlichen Todes“. Bis dahin wird die Arbeit der Hausangestellten wie zuvor fortgeführt – für Princesa.
Absurde Arbeitswelt
Meereswellen – dann, nach einiger Zeit, ein langsamer Schwenk auf eine graue Wand. Schon mit der Anfangsszene macht Jose Luis Valle seinen Stil klar; er arbeitet mit beobachtenden Totalen, verharrt oft in ihnen, verlangt dem Zuschauer dabei Geduld ab. Zuweilen erinnert das an den Stil Ulrich Seidls (Paradies-Trilogie), nicht zuletzt an dessen sozialkritischen „Import Export“.
Trotzdem entwickeln Valles durchkomponierte Bilder eine Sogkraft. Das liegt vor allem an der Absurdität der Arbeitswelt, die durch seine Bilder vermittelt wird – etwa die triste Monotonie der Arbeit durch gezielte Farbkomposition. Er artikuliert damit politische Kritik – aber nicht, wie viele andere sozialkritische AutorenfilmerInnen, in einer schreienden Gesellschaftskritik, sondern in einer entlarvenden Absurdität dieser schönen neuen Arbeitswelt.
Leises Aufbegehren
Auch als Erzähler ist José Luis Valle großartig. Die beiden Erzählstränge werden nie zusammengeführt, nur gelegentlich wird eine gemeinsame Vergangenheit Lidias und Rafaels angedeutet: Beide waren vor Jahren ein Paar, beide trauern um ein totes Kind, wohl ihr gemeinsames. Neben dem leisen, absurden Humor sind es die Momente, in denen die HauptprotagonistInnen anfangen, sich zu wehren und gegen ihren entfremdeten Arbeitsalltag aufzubegehren, die auch Valles „Workers“ auszeichnen. Die Hausangestellten um Lidia erzählen sich von ihren Träumen – davon, irgendwann mal wieder ins alte Heimatdorf zurückzukehren, wieder jung zu sein, genug Geld zum Leben zu haben. Das mündet aber in der ernüchternden Einsicht, ärmer als die Hündin Princesa zu sein. Und die Einsicht in die Absurdität, für einen Hund zu arbeiten, lässt die Hausangestellten dann auch (verständlicherweise) ein Interesse daran haben, den Lebensabend der Princesa zu verkürzen. Wehren wird sich auch Rafael. Herrlich, wie er die entfremdete Arbeit stoisch hinnimmt, seine proletarische Würde mit leisen Gesten verteidigt. Für die Ablehnung seiner Pension wird er sich mit kleinen Sabotageakten revanchieren.
Der jüngste mexikanische Film rockt das Gegenwartskino. Nach Alejandro Gonzáles Iñárritu („Biutiful“, „Babel“, „Amores perros“), Carlos Reygadas („Japon“), und anderen reiht sich nun auch José Luis Valle mit seinem beeindruckenden Spielfilmdebüt in diese Reihe ein.
Der Film läuft im Sweet Sixteen, Dortmund, Immermannstraße 29, 9.–15. Januar, jeweils um 17 Uhr
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