(ks) Es gibt gewiss Dinge, die man sich schönreden kann. Das gelingt allerdings nicht immer, wie das Jobcenter Kreis Pinneberg in seinem Ratgeber zum Arbeitslosengeld II (ALG II) unter Beweis stellt. Vielleicht ist diese Broschüre ein weiterer Beleg dafür, dass „gut gemeint” das Gegenteil von „gut” ist. In jedem Fall ist hier unfreiwillig ein Dokument der Realitätsverweigerung gelungen, das einen tiefen Einblick in die Gemütsverfassung der MitarbeiterInnen des Jobcenters Pinneberg erlaubt. Es ist nicht wahrscheinlich, aber zu hoffen, dass nicht alle Jobcenter so ticken wie das in Pinneberg.
Die 112 Seiten starke Broschüre will anders sein als die üblichen im Amtsdeutsch verfassten Info- und Merkblätter der Jobcenter. Am Beispiel der Familie Fischer wird ein ALG II-Fall von der Beantragung bis zur glücklichen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt beschrieben. Die fiktive Story ist schnell erzählt: Vater Knut Fischer fällt aus dem ALG I-Bezug und muss ALG II beantragen. Er und seine Familie stellen sich schnell auf die neuen finanziellen und rechtlichen Bedingungen ein, die für Menschen gelten, die umgangssprachlich „Hartzer“ oder einfach „Kunden“ genannt werden, und nach einer gewissen Durststrecke wird nicht nur Herr Fischer einen neuen ‚angemessenen´ Job bekommen haben, sondern auch seine Frau wird, durch das Hartz-Regime wachgerüttelt, ihren Minijob aufgegeben haben und ihr Selbst fortan als Altenpflegerin verwirklichen. Grundsätzlich sollte man nicht verurteilen, dass hier ein Versuch unternommen wird, die Bedingungen des ALG II normalverständlich darzustellen. Die Broschüre schießt aber weit über das Ziel hinaus und stellt das „schöne Hartzer-Leben“ so verkitscht und idyllisch dar, dass sich einem das Gefühl aufdrängen könnte, selbst so schnell wie möglich in das Hartz-Paradies gelangen zu wollen.
Hartz IV – ein bunter Comic-Strip
Das besonders Ärgerliche an dieser Publikation sind nicht die Infoboxen und Textteile, in denen rechtliche Grundlagen zum Bezug von ALG II und das Prozedere im Jobcenter beschrieben werden. Das Feature, das den Stein des öffentlichen Anstoßes darstellt, sind bunte Comic-Bilder, welche die Familie Fischer bei der Bewältigung ihrer Herausforderungen zeigen, unterstützt durch fiktive Dialoge der Familie, die allesamt ein weichgezeichnetes Bild des Lebens unter ALG II-Bedingungen zeichnen. Abgesehen davon, dass die Realität nicht aus lauter ‚deutschen‘ , klassischen Kleinfamilien besteht, die im Jobcenter ohne Wartezeiten auf hilfsbereite und freundliche MitarbeiterInnen stoßen, wird das Thema Langzeitarbeitslosigkeit völlig ausgeblendet. Der Jobcenter-Alltag von Deutschen mit Migrationshintergrund und AusländerInnen wird ebenso außen vor gelassen wie die besonderen Probleme von behinderten ALG II- BezieherInnen.
This is Propaganda
Stattdessen kommt Hartz IV als eine Art zweite Aufklärung daher: Die neue Wohnung der Fischers nach dem Zwangsumzug ist zwar kleiner als die vorherige, aber auf wundersame Weise können beide Kinder weiterhin ein eigenesZimmer haben. Und sogar einen Garten gibt es, in dem Herr Fischer nun endlich die langersehnte Scholle findet, um dem Boden seine Nahrung abzuringen. Gemüse anbauen zu können hat er sich schon immer gewünscht und es spart nebenbei Geld. Tochter Lara profitiert auch vom ALG II ihres Vaters: Um Geld sparen zu können, will die Familie künftig zeitweise auf Fleisch verzichten. „´Ich will sowieso Vegetarierin werden´, erklärt Laura schon wieder bester Laune.“ Es entsteht der Eindruck, dass Hartz IV das Beste aus den Menschen herausholt, den Familienzusammenhalt stärkt und etwas ist, was man dem besten Freund und der besten Freundin wünschen sollte.
Konsumverzicht unter falschen Vorzeichen
Natürlich sind die Vorschläge zum Konsumverzicht ökologisch und politisch sinnvoll. Die Welt wäre besser, wenn möglichst viele Menschen der Pinneberger Broschüre folgend weniger Fleisch essen, weniger Produkte aus Übersee kaufen und die Wirtschaft durch Konsumverzicht und Selbstversorgung möglichst effektiv abwürgen würden. Aber es ist ja nicht der politische Auftrag der Jobcenter, die Rezession in Deutschland zu unterstützen. Wenn Menschen aus freien Stücken dem Fleisch, dem Auto und den Produkten der Globalisierung entsagen, ist das gewiss ein erster Schritt hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft. Aber hier geht es um „Kunden“-Zwang und nicht um Aufklärung.
Die Realität sieht anders aus
Die Welt, in der die meisten Jobcenter-MitarbeiterInnen leben, ist geprägt von Konflikten mit „Kunden“. Sie sind teilweise wenig qualifiziert, erscheinen nicht immer zu Terminen, sprechen manchmal schlecht Deutsch und sind in der Regel nicht so „kooperativ“ und „leistungsfähig“ wie das Wunschbild der Familie Fischer nahelegt. Ein Drittel der ALG II- Berechtigten in Deutschland beantragt die Mittel nicht einmal – vermutlich auch, weil nichts schlimmer erscheint, als in die kafkaesken Mühlen der Jobcenter zu kommen. Genauso werden die Jobcenter-MitarbeiterInnen realitätsfern gezeichnet. Sie arbeiten unter enormem Druck und sind zum Teil selbst prekär beschäftigt.
Wer sich über die Realität des Hartz-Regimes informieren möchte, kann das unter anderem hier tun: http://www.ingehannemann.de Die Broschüre des Jobcenters Pinneberg gibt es hier: http://tinyurl.com/pndfa7b
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