Die Türkei kommt nicht zur Ruhe: Tag für Tag und Nacht für Nacht sind DemonstrantInnen auf der Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen. Der Istanbuler Gezi-Park ist seit über einer Woche besetzt. Unter dem Twitter-Hashtag #occupygezi wird der Protest auch im Internet vorangetrieben. Bei uns sind es vor allem die erschreckenden Fernsehbilder von Straßenschlachten, die im Kopf bleiben: Die harte Linie der Polizei hat sogar schon Todesopfer gefordert. Unklar bleibt aber oft, welche Ziele die als „Plünderer“ gebrandmarkten DemonstrantInnen verfolgen.
Angefangen haben die mittlerweile landesweit aufflammenden Proteste dort, wo sich auch jetzt noch ihr Epizentrum befindet: Im Istanbuler Gezi-Park. Dort sollte eine neue, moderne Shoppingmall entstehen. Alles also wie in Stuttgart, nur eben über der Erde? So einfach ist es natürlich nicht. Denn wo in Schwaben so genannte Parkschützer eine klare Agenda verfolgten, geht es am Bosporus um weit mehr als nur eine städtische Grünfläche. Teile des türkischen Volkes scheinen stattdessen ihren Premierminister satt zu haben. Und das nicht nur in Istanbul. Innerhalb kürzester Zeit haben sich die Kundgebungen und Demonstrationen wie ein Lauffeuer in der Türkei und darüber hinaus verbreitet. Und immer öfter steht Recep Tayyip Erdogan im Zentrum der Kritik. Dem 59-jährigen wird vorgeworfen, autokratisch und paternalistisch zu regieren. Vor allem die Beschränkung von Medien- und Meinungsfreiheit wird angemahnt.
Oft wird aber vergessen, dass Erdogan nicht etwa ein Diktator ist. Der Premier ist durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2011 entfielen auf seine islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) über 49 Prozent der Stimmen.
Viele Gründe für Unmut
Von solcher Unterstützung ist in diesen Tagen aber bisher wenig zu sehen. Neben den erwähnten Defiziten in Medien- und Meinungsfreiheit wird außerdem Erdogans Haltung gegenüber ethnischen Minderheiten kritisiert. Und dazu sein Chauvinismus: Erdogan wird vorgeworfen, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen nicht zu respektieren. Der Premier wird angefeindet für seine Positionen zur Religion und für seine Aussagen über den Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk.
Natürlich haben nicht alle Demonstrierenden in allen dieser Punkte Ansichten, die sich stark von denen Erdogans unterscheiden. Die meisten der Menschen, die auf die Straße gehen, haben klare Positionen zu einem bestimmten Thema. KurdInnen setzen sich, wie zuvor, für ihre Autonomie ein. FeministInnen bekämpfen den Chauvinisten, den sie in Erdogan sehen. KemalistInnen halten das Andenken Atatürks rein. Und Linke wünschen sich weniger Autokratie. Auch apolitische DemonstrantInnen bevölkern den Gezi-Park. Sie wollen oft einfach nur Erdogan loswerden. Und dann gibt es noch die RandaliererInnen und PlündererInnen, die sich mit der Staatsgewalt gewaltsam messen wollen. Diese Gruppe diskreditiert leider das gesamte Spektrum der Gegenbewegung. „Plünderer und Marodeure“ lässt Erdogan alle, die gegen ihn auf den Straßen sind, nennen. Unter normalen Umständen sind diese Gruppen selbst untereinander verfeindet. Als besonderes Zeichen der Gräben überwindenden Solidarität untereinander darf auch eine Aktion der großen Istanbuler Fußball-Fanclubs gewertet werden: Gemeinsam marschierten die sonst fanatisch verfeindeten BallsportanhängerInnen, um ein Zeichen gegen Erdogan und für die Proteste zu setzen.
Ungewisse Zukunft
Nach nun mehr als wochenlangen Protesten stellt sich mittlerweile die Frage, wie es weitergehen soll. Bisher sind die Fronten mehr denn je verhärtet. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt der massive Polizeieinsatz, insbesondere in Istanbul. Bisher sind zwei Todesopfer und mehrere Schwerverletze auf Seiten der Demonstrierenden zu beklagen. Auch für die Polizei fordern die Proteste ihren Tribut: Laut Angaben haben sich seit Beginn der Demonstrationen bereits sechs Polizisten selbst umgebracht, nachdem sie teilweise bis zu 120 Stunden im Einsatz waren.
Premierminister Erdogan zeigt sich bisher allerdings wenig einsichtig und folgt weiterhin seiner „Plünderer“-Rhetorik. Statt Gesprächsbereitschaft signalisiert er Ungeduld. Für das kommende Wochenende hat er seine eigenen AnhängerInnen aufgerufen, auf die Straße zu gehen.
Die instabile Lage in der Türkei betrifft auch die Lehre der RUB: Eine für diese Woche geplante Exkursion des Lehrstuhls für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei muss aufgrund der Ereignisse ausfallen.
Auch wenn die oben beschriebenen Verhältnisse bei uns weit entfernt scheinen, besteht doch Grund zur Aufmerksamkeit, wenn nicht Sorge: Ausgerechnet bei einer Solidarveranstaltung für den Protest in der Türkei Anfang Juni in Frankfurt zeigte sich, dass auch die deutsche Polizei entsprechende Methoden beherrscht. TeilnehmerInnen sprechen von gezielter Gewaltanwendung durch die OrdnungshüterInnen. Knüppel und Tränengas ließen die Proteste um den Gezi-Park näher scheinen als geglaubt.
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