Vergangene Woche noch geisterten täglich Aufnahmen brennender Autos, einer Polizeiwache und Bildungseinrichtungen aus schwedischen Vorstädten durch die Medien – diese Woche sind die Nachrichten voller Bilder des staatlich unterdrückten Protests gegen ein mutmaßlich undemokratisches Regime in der Türkei. So verschieden die Anlässe des Aufruhrs auch sein mögen – gemeinsam ist den aktuellen sozialen Unruhen eine tiefe Unzufriedenheit mit staatlicher Repression und struktureller Chancenungleichheit im Turbokapitalismus der Gegenwart. Während die Entwicklung der inzwischen auf 48 von 81 Provinzen ausgeweiteten Proteste in der Türkei bei Redaktionsschluss nach dem Tod zweier Menschen und etwa 1.000 Verhaftungen bei über 90 Demonstrationen unklar ist und am Wochenende auch in Deutschland vielerorts Solidaritätsdemos stattfanden, hat sich die Situation in Schweden einstweilen beruhigt. Die :bsz betrieb Ursachenforschung und sprach mit der Stockholmer Projektleiterin und politischen Beraterin für ethnische Vielfalt bei der JuristInnengewerkschaft Jusek, Josefin Claesson.
Trotz des EU-Beitritts und der damit verbundenen Anpassungen sozialer Sicherungssysteme an den europäischen Durchschnitt galten die Reste des „Schwedischen Wohlfahrtsstaats“ bis in die Nullerjahre hinein immer noch als vorbildlich. Sieben Jahre Mitte-Rechts-Regierung haben jedoch auch an den ehemals hohen Standards im Gesundheits-, Jugend- und Bildungsbereich gerüttelt und vielerorts eine zerrüttete soziale Infrastruktur zurückgelassen – so etwa in der Stockholmer Satellitenstadt Husby, wo über 80 Prozent der rund 12.000 EinwohnerInnen arbeitslos sind, die Schulen vernachlässigt und sowohl das örtliche Gesundheitszentrum als auch ein Jugendzentrum geschlossen wurden. Kein Wunder, dass die sozialen Unruhen Mitte Mai in Husby rasant Fahrt aufnahmen, nachdem ein 69-jähriger Mann mit Migrationshintergrund, der die Nachbarschaft sowie die anrückende Polizei mit einer Hieb- oder Stichwaffe bedroht haben soll, von Spezialeinsatzkräften „vorbeugend hingerichtet worden“ sei, wie die angebliche Notwehrsituation am 22.5. in der taz ausgelegt wurde.
Frustgewalt
„Aus Frust wird Gewalt“, titelte die Zeitung nach der dritten Unruhenacht in Folge. Die Parallelen zur Revolte in den Pariser Vorstädten 2005 sind unverkennbar – auch damals brannten Nacht für Nacht erst Autos und schließlich Schulen und andere öffentliche Einrichtungen. Der Anlass für die Jugendproteste in der größten EU-Metropole war allerdings ein anderer gewesen: Damals stand die Eskalation im Zeichen des Widerstands gegen eine Abschaffung des Kündigungsschutzes für Unter-25-Jährige, der schließlich erhalten blieb. Andere Muster aber sind sehr ähnlich – eine Einschätzung, die auch die Stockholmer Gewerkschaftsmitarbeiterin Josefin Claesson teilt: „In der Tat gibt es viele Parallelen: In Paris waren es auch die frustrierten, chancenlosen Jugendlichen, die revoltierten. Andere Faktoren wie die Klassenfrage und der Rassismus sind jedoch dieselben. Sowohl in Paris als auch in Stockholm gab und gibt es – insbesondere unter Jugendlichen mit multiethnischen Wurzeln – ein Gefühl großer Wut und Ausgestoßenheit.“ Zumindest was die Proteste in Schweden betrifft, ist sich Josefin Claesson sicher: „De som bara vill bråka är en minoritet.“ („Diejenigen, die nur Stress machen wollen, sind eine Minderheit.“)
Einkommenskluft wächst in Rekordgeschwindigkeit
Warum ausgerechnet Schweden?, werden sich nicht nur eingefleischte Astrid-Lindgreen-Fans in den letzten Wochen gefragt haben. Die dem scheinbar plötzlichen Gewaltausbruch zugrundeliegenden Ursachen beschreibt Josefin Claesson als „äußerst komplex“: „Es gibt gegenwärtig große gesellschaftliche Probleme in Schweden mit seiner stark zersplitterten Gesellschaft. Zudem gibt es sehr ausgeprägten Rassismus in Schweden.“ Die sozialen Folgen der wachsenden Segregation spiegeln sich auch im neusten OECD-Bericht wider: Zwar liegt Schweden im Kreise der 29 führenden Industrieländer immer noch unter den ersten zehn, was eine ausgeglichene ökonomische Ressourcenverteilung angeht. Dennoch verzeichnet das Land „den größten Zuwachs der Einkommenskluft von allen OECD-Ländern“ – und das sogar auf einen Zeitraum seit 1985 betrachtet. Wenn es die Politik nicht in den Griff kriegt, diesen Trend zu wenden, sind die nächsten sozialen Unruhen sicherlich vorprogrammiert. Ein Blick nach Istanbul lässt erahnen, welche Erschütterungen dem vielzitierten ‚Europäischen Haus‘ bevorstehen, wenn das politische Establishment versucht, eine repressive Politik gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen. Noch ist es nicht zu spät, um es nicht so weit kommen zu lassen.
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