2011 jährte sich zum 50. Mal jenes Anwerbeabkommen, mit dem in der Folgezeit Hunderttausende MigrantInnen zu einer Übersiedlung als sogenannte GastarbeiterInnen nach Deutschland motiviert wurden. Beim Essener Verlag ethnotopia hat der KatakART e.V. nun eine von Uri Bülbül (Textzentrum Essen) konzipierte und realisierte Sammlung von Reportagen und Interviews herausgebracht, die das Phänomen der Arbeitsmigration aus verschiedenen, sehr persönlichen Blickwinkeln heraus illustrieren. MigrantInnen aus Bosnien-Herzegowina, Ghana, Griechenland, Italien, Spanien, Südkorea und – mit Abstand am stärksten gewichtet – der Türkei kommen in insgesamt 18 Beiträgen zu Wort. Hierbei ist ein spannendes Kaleidoskop erlebter Migrationsgeschichte entstanden.
Die Motive der Migration sind vielfältig: Oftmals spielen nicht nur die ökonomischen Verhältnisse, Kriege oder Naturkatastrophen eine zentrale Rolle als Migrationsmotiv, sondern auch die Flucht vor familiären Krisen, denn „Familie kann auch zum Ort des Schreckens, Terrors, Gewalt und Unterdrückung werden.“ Um den gordischen Knoten des Schweigens hierüber zu zerschlagen, versucht Uri Bülbül in seinem Beitrag „Ziya – der ‚verhexte’ Sohn“ eine deutsch-türkische Familiengeschichte anlässlich des unerwarteten Todes eines sechsfachen türkischen Familienvaters aus Sicht der Kinder multiperspektivisch zu beleuchten.
Chance zum familiären Neuanfang
Mehrfach im Buch sind es die Migrationsgeschichten türkischstämmiger MigrantInnen, die als gewaltbelastet beschrieben werden; insbesondere Frauen der ersten ‚Generation Gastarbeit‘ haben immer wieder unter spezifischen Formen struktureller Gewalt – etwa durch Zwangsheirat – oder konkreter körperlicher Gewalt zu leiden: Beschrieben wird neben Misshandlungen durch den Ehemann auch körperliche Gewaltausübung durch andere Familienmitglieder, um Fehlverhalten des Ehemanns stellvertretend zu sanktionieren. Vielfach bietet das neue kulturelle Umfeld die Chance, mit solchen fatalen Mustern zu brechen und beispielsweise nach einer in der Heimat kaum tolerierten Scheidung ein neues Leben zu beginnen. Sehr eindringlich beschreibt die 1970 nach Deutschland emigrierte Sevim Tuncer, wie sie mit 20 gegen ihren Willen verheiratet wurde und sich nach zwei Jahren von ihrem seitens der Eltern schließlich für ‚arbeitsunwillig’ befundenen Ehemann scheiden lassen konnte. Ihren zweieinhalbjährigen Sohn lässt sie bei ihren Eltern zurück.
Existenzängste und Identitätsfragen
Doch bereits die Bahnreise in eine neue Zukunft ist für Sevim Tuncer beschwerlich und angstbeladen: „Angst bekamen wir bei der Zugfahrt, die durch Wälder führte – unter Tränen dachten wir: ‚Sie könnten uns hier abschlachten […]. Keiner würd es je mitbekommen.’“ Seit 1972 lebt Sevim Tuncer in Essen, wo sie lange Jahre bei Krupp arbeitete. Obwohl sie dort in zweiter Ehe zwei Töchter zur Welt bringt und ein etwas glücklicheres Leben führt, betrachtet sie Deutschland nach wie vor nicht als ihre Heimat: „Die Kulturzugehörigkeit für mich ist eindeutig“, erklärt Sevim Tuncer selbstbewusst, „ich bin eine türkische Frau, die hier lebt und bis zum Ende leben wird. Ich kenne meine Herkunft und meine Wurzeln sehr gut und ich stehe zu ihnen, deshalb kenne ich keine Identitätskrise.“ Obwohl Sevim Tuncer seit 2003 schwer erkrankt ist, zieht sie eine ermutigend positive Lebensbilanz: „Verändern würde ich in meinem Leben, wenn ich es zurückdrehen könnte, bis auf meine Eheschließungen nichts.“
Falsche Versprechungen
In etwas anderem Licht bewertet Ismail Tatık, der heute 68-jährige Vorsitzende der 2006 gegründeten Alevitischen Gemeinde Essen-Altendorf, seine Entscheidung, Anfang der 70er Jahre nach Deutschland zu kommen. Bereits die Verhältnisse bei der im Rahmen des Anwerbeabkommens obligatorischen Gesundheitsuntersuchung in Istanbul, wo sich „die Firmenvertreter […] ihre Truppen zusammengesucht“ haben, beschreibt der dreifache Familienvater rückblickend als „unmenschlich“: „Das war wie auf dem Viehmarkt dort!“ Seinen Arbeitsalltag in der Diaspora, die er nach dreitägiger Zugfahrt in hoffnungslos überfüllten Abteilen schließlich erreicht, fasst er prägnant zusammen: „Wir haben gearbeitet wie bekloppt.“ Bei einem Arbeitsunfall an einer noch im Probelauf befindlichen Maschine verliert er – kurz nachdem er 1973 seine Familie nach Deutschland nachgeholt hat – drei Finger. Nüchtern bilanziert Ismail Tatık: „Glauben Sie mir, wenn die ersten die da waren nicht so ein[en] Blödsinn erzählt hätten, sondern die Wahrheit gesagt hätten, wären nicht so viele nach Deutschland gekommen. Wir haben diese Märchen geglaubt.“
Authentische Dokumentarliteratur
Aufgrund des Facettenreichtums der geschilderten Migrationserfahrungen und ihrer perspektivischen Vielfalt ist „Die Elegie der Gastarbeiterschaft“ in jedem Fall eine Leseempfehlung wert – auch wenn die häufig sehr eindrucksvoll pointierte, individuell erlebte Migrationsgeschichte zuweilen durch etwas langatmige Alltagsschilderungen überlagert wird. Die einzelnen Beiträge sind jedoch überwiegend spannend zu lesen und sind so authentisch wie möglich gehalten – wenn auch eine etwas stärkere redaktionelle Überarbeitung dem einen oder anderen Beitrag vielleicht gutgetan hätte. In einer editorischen Vorwortnotiz geht Uri Bülbül hierauf jedoch bereits vorausschauend ein und konstatiert: „Der Erzählduktus der Befragten spricht oft eine eigene Sprache und eröffnet einen ganz eigenartigen Blick, der zerstört worden wäre, wenn man ihn einer ordentlichen Schriftsprache untergeordnet hätte.“
KatakART e. V. (Hg.):
„Die Elegie der Gastarbeiterschaft: Migration und Integration in dokumentarliterarischer Epik und Interviews“
Ethnotopia Buchkonzept
104 Seiten
12,90 Euro
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