Immer mehr Schulen deutschlandweit und in NRW stellen auf U60M um, auf „Unterricht in 60-Minuten-Einheiten“. Schulstunden, die einer vollen Zeitstunde entsprechen statt wie bisher 45 Minuten, sollen einen strukturierteren Aufbau der Einheiten ermöglichen und die Möglichkeiten moderner pädagogischer Methoden besser ausnutzen. Dr. Rainer Wackermann vom Lehrstuhl für Didaktik der Physik an der RUB bestätigt dies in einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Untersuchung.
1911 gab es eine Schulreform in Preußen: Die Schulstunde an den weiterführenden Schulen sollte fortan nur noch 45 Minuten dauern, und nicht, wie zuvor (als die Bezeichnung „Stunde“ noch passte), 60 Minuten. Die Begründung: Am Nachmittag lasse die Lernleistung und Konzentration der Schülerinnen und Schüler nach. „Plenus venter non studet libenter“, ein voller Bauch studiert nicht gern, sollen die alten Römer schon gewusst haben, also sollte man so viel wie möglich noch vor dem Mittagessen lernen. Ab 1920 wurde die dreiviertelstündige Stunde dann in allen preußischen Schulen eingeführt. Obwohl die Halbtagsschule schon ihrerzeit als augenwischerischer Notbehelf kritisiert wurde, der möglichst viel Stoff in möglichst kurzer Zeit unterzubringen sollte, wurde sie zum Standard.
Ein Jahrhundert später stellen immer mehr Schulen in Deutschland ihren Unterricht auf 60-Minuten-Einheiten um – in der pädagogischen Debatte kurz U60M genannt. Doch ist auch die volle Zeitstunde eine willkürliche Festlegung. In Österreich etwa dauert eine Schulstunde 50 Minuten. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu, wie lang die optimale Unterrichtsstunde dauert, sind widersprüchlich. Dass jedenfalls 60 Minuten besser sind als eine Dreiviertelstunde, das haben Forscher um Physik-Didaktiker Rainer Wackermann von der RUB empirisch nachgewiesen. „Der längere Unterricht hat das Potenzial zur Qualitätsverbesserung“, subsummiert Wackermann. Jedoch handle es sich nicht um eine „Pauschallösung“.
Mehr Zeit für Eigenleistung
Bereits 2006 analysierten Forscher Aufzeichnungen von Physikstunden an elf Schulen, acht Gymnasien und drei Gesamtschulen. Eine dieser Schulen wurde im Rahmen dieser Studie, die von der DFG unterstützt wurde, nun abermals analysiert, dieses Mal mit 60-minütigen Physikstunden statt wie zuvor 45-minütigen. Dabei wurden die neuen Aufnahmen mit den alten verglichen. Das Ergebnis: Wird die zusätzliche Viertelstunde sinnvoll genutzt, ist der pädagogische Mehrwert nicht von der Hand zu weisen.
Normalerweise dauert es im Unterricht 10 bis 15 Minuten, bis der Lehrer oder die Lehrerin die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler gewonnen und in das Thema der Stunde eingeführt hat. Die verbleibende Zeit für Gruppenarbeiten, SchülerInnenversuche und Ähnliches sowie anschließende Reflexion und Besprechung der Ergebnisse ist mit einer halben Stunde knapp bemessen. Nicht immer steht eine Doppelstunde zur Verfügung. Bei einer vollen Zeitstunde könnten die LehrerInnen den SchülerInnen mehr Freiraum geben, sich den Stoff selbst zu erschließen.
Cui non bono?
– Wem nützt es nicht?
Wackermann geht davon aus, dass die Ergebnisse für alle weiterführenden Schulformen „vergleichbar“ seien, nur „für eine Übertragung auf die Grundschule“ jedoch möchte er „keine Aussage wagen“.
Und obwohl die Zahl der Schulen, die auf U60M umsteigen, wächst, ist auch dieses Konzept nicht ganz unproblematisch. „KollegInnen aus der Schule berichten davon, dass die Fremdsprachenlehrer die Schülerinnen und Schüler gerne häufiger pro Woche sehen“, sagt Wackermann. Das Johannes-Kepler-Gymnasium im münsterländischen Ibbenbüren, das seit 2008 stündlich taktet, räumt ein, dass die lange Stunde insbesondere bei Klassenarbeiten und Klausuren problematisch sein kann.
Im Ruhrgebiet haben unter anderem das Bert-Brecht-Gymnasium in Dortmund und die Willy-Brandt-Schule in Mülheim a. d. Ruhr das Prinzip Schulstunde gleich Zeitstunde eingeführt.
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