Antisemitismus ist in vielen europäischen Gesellschaften weiterhin ein grassierendes Problem, wie zahlreiche Studien der jüngsten Vergangenheit nahelegen (zuletzt etwa eine vergleichende Analyse acht europäischer Länder durch die Universität Bielefeld). Die Ereignisse, die sich in den letzten Wochen und Monaten in Ungarn abgespielt haben, sind in jeder Hinsicht inakzeptabel und geben vor dem Hintergrund ungarischer Vergangenheitsbewältigung besonderen Anlass zur Sorge. Zuletzt sorgte Márton Gyöngyösi, Politiker der rechtsextremen Partei Jobbik Magyarországért Mozgalom („Bewegung für ein besseres Ungarn“) für einen Eklat, als er die Erstellung von „Judenlisten“ forderte; insbesondere jüdische ParlamentarierInnen müssten aus Sicherheitsgründen erfasst werden, so Gyöngyösi.
Gyöngyösi lieferte mit seinen Äußerungen ein eindrucksvolles Beispiel für die Sorge führender ExpertInnen im Bereich der Antisemitismusforschung, welche zuletzt immer häufiger auf eine Verquickung von antizionistischen Slogans mit eindeutig antisemitischen Ressentiments hingewiesen haben. Im Zuge einer Debatte über die israelische Militäroffensive in Gaza forderte der offen rechtsextremistische Gyöngyösi vor dem ungarischen Parlament die Registrierung der in Ungarn lebenden Juden und Jüdinnen, insbesondere solcher, die im Parlament oder in der Regierung sitzen und potenziell subversiv seien – ohne dass es zu unmittelbaren Protesten seitens der ParlamentarierInnen kam. Der Politiker der rechten Jobbik-Partei schränkte sein Statement nach teils scharfen Protesten aus Politik und Gesellschaft insoweit ein, als dass das Ziel der Registrierung nicht die Diskriminierung ungarischer Juden und Jüdinnen sei, sondern eine Überprüfung der Anzahl ungarischer BürgerInnen mit zusätzlicher israelischer Staatsbürgerschaft. Die volksverhetzende Annahme, dass diese aufgrund eventueller Illoyalität eine Gefährdung der nationalen Sicherheit Ungarns darstellen könnten, geistert seit einigen Jahren durch die ungarische Rechte und bezieht sich auf eine Rede des israelischen Präsidenten Shimon Peres, in der jener den wirtschaftlichen Aufschwung und die Investitionen israelischer UnternehmerInnen im Ausland anpries. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen schneiderten sich die ungarischen Rechten eine etwas unglückliche Formulierung Peres’ zu einer antisemitischen Verschwörungstheorie zusammen.* Die Weisen von Zion lassen grüßen.
Antisemitische Plattitüden
Wer noch weiterer Belege für die antisemitische Weltanschauung Jobbiks bedarf – die Homepage der Partei bietet deutliches Anschauungsmaterial. Dort ist u.a. zu lesen, dass Israel „das weltweit größte Konzentrationslager“ betreibe, für israelische StaatsbürgerInnen kein Platz im ungarischen Parlament sei und Israel eine Herrschaft führe, die an die „dunkelsten Zeiten der Geschichte erinnert“. Zum Teil warnen Stimmen aus Ungarn davor, das gesamte Land für die Illusionen der radikalen Rechte zu brandmarken und es zu einer Art europäischem Buhmann zu machen. Vor diesem Hintergrund soll erwähnt werden, dass die regierende Fidesz-Partei die Äußerungen Gyöngyösis unmissverständlich verurteilte und sich mehr als 10.000 Menschen aus allen Gesellschaftsschichten an einer Demonstration gegen den Antisemitismus Jobbiks beteiligten.
Vergangenheitsbewältigung sieht anders aus
Doch auch die mit Zweidrittelmehrheit herrschende Fidesz kann sich weder von latentem Antisemitismus ihrer Mitglieder noch von einem politischen Kurs, der eine Renaissance völkisch-nationalistischer Traditionen befürwortet, freisprechen.
Nicht nur wird eine Erinnerungskultur an die Ära Miklós Horthys, welcher als Staatsoberhaupt (1920-1944) zweifellos zur raschen Deportation von mehr als 400.000 ungarischen Juden und Jüdinnen beitrug, offen gefördert, auch sind Texte des der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler-Partei zugehörigen Schriftstellers Jószef Nyírös als Pflichtlektüre im Schulunterricht vorgesehen. Zudem wurde im Sommer diesen Jahres bekannt, dass Laszlo Csatary, der für seine Verantwortlichkeit für die Deportation von etwa 15.700 Juden und Jüdinnen im Jahr 1944 an höchster Stelle der „most-wanted“-Liste des Simon Wiesenthal Centers steht, während der letzten 17 Jahre unbehelligt in Budapest lebte; zuletzt hatte er sogar unter eigenem Namen eine Wohnung in einem vornehmen Stadtteil gemietet.
Keine Toleranz für Volksverhetzer
Es ist sicher wahr, dass Stigmatisierung die ungarische Gesellschaft, insbesondere aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, derzeit nicht weiterbringt. Dennoch sind unhaltbare Aussagen wie die Gyöngyösis nicht hinzunehmen; es gilt, der radikalen Rechten Einhalt zu gebieten. Nicht nur die Lage der ungarischen Juden und Jüdinnen, sondern auch die Situation anderer Minderheiten erscheint unheilvoll bis bedrohlich – dies ist generell nicht tolerierbar, und eines Staates, der sich zu den Werten der EU bekennt, besonders unwürdig.
* Der Autor entschuldigt sich für einen den Inhalt verzerrenden sprachlichen Fehler, der leider auch in die Printausgabe übernommen wurde. Zuvor hatte hier "schneiderten sich … zu einem Beleg für ein antisemitisches Komplott" gestanden, dies ergibt natürlich keinen Sinn.
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