Bild: Die Bundesagentur für Arbeit: Hier wird fleißig sanktioniert., Mehr als eine Million Sanktionen gegen Hartz-IV Empfänger Foto: ck
Die aktuelle Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeichnet ein bedrückendes Bild. Erstmals haben die Jobcenter mehr als eine Million Mal Strafen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen verhängt. Aus dem Jahresbericht der Agentur geht auch hervor, dass die Zahl der verhängten Strafen in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen ist. Wie dieser historische Negativrekord erreicht werden konnte? Dafür hat die BA ihre ganz eigene Erklärung.

Die Zahl der verhängten Strafen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen habe einen „neuen Rekordstand“ erreicht, so der Bericht. Von August 2011 bis Juli 2012 verhängten die Jobcenter mehr als eine Million Mal Sanktionen gegen die BezieherInnen von Arbeitslosengeld II (ALG II). Der direkte Vergleich mit den Zahlen von 2009 lässt deutlich werden, welches Ausmaß die Bestrafung von Hartz-IV-EmpfängerInnen angenommen hat. Demnach ist die Zahl der verhängten Strafen seit 2009 um 38 Prozent, auf 1,017 Millionen angestiegen. Ilona Mirtschin, die stellvertretende Leiterin der Presse- und Marketingabteilung der Bundesagentur für Arbeit, sieht die Gründe für diesen „vermeintlichen Erfolg“ in der „Professionalisierung der Jobcenter“ und in der „guten Arbeitsmarktlage“. Abseits dieser Einschätzung sorgt der Jahresbericht bei den KritikerInnen von Hartz IV und den Betroffenen für Gesprächsstoff. Neben der positiven Interpretation der Zahlen durch die BA lässt der Bericht auch deutlich werden, dass sich der Druck auf Arbeitslose drastisch erhöht hat.

Regelverstöße und Sanktionen

Getreu dem Motto „Fördern und Fordern“ hat der Gesetzgeber klare Richtlinien für Hartz-IV-EmpfängerInnen aufgestellt. Diese Regeln schreiben vor, was eine Person, die Hartz IV bezieht zu tun hat, damit er/sie seine/ihre Ansprüche auf das Arbeitslosengeld II behält. Verstößt er/sie gegen diese Regeln, drohen Sanktionen in Form von Abzügen vom ALG II. Zu den am häufigsten geahndeten Regelverstößen gehören Meldeversäumnisse, das Ablehnen eines Jobangebots und die Verweigerung einer Weiterbildung. Aus dem aktuellen Bericht der Bundesagentur für Arbeit geht hervor, dass von August 2011 bis Juli 2012 mehr als 680.000 Sanktionsfälle auf Meldeversäumnisse zurückzuführen waren. In der vorliegenden Statistik ist diese Form der „Sanktionsbegründung“ damit unangefochtener Spitzenreiter. Seltener, aber mehr als 148.000 Mal, wurden Sanktionen ausgesprochen, weil Hartz-IV-EmpfängerInnen einen vom Jobcenter angebotenen Job abgelehnt hatten. In diesem Fall hat das Jobcenter die Möglichkeit, die Leistungen um bis zu 30 Prozent, befristet auf drei Monate, zu kürzen. 141.000 Sanktionen wurden verhängt, weil sich Hartz-IV-EmpfängerInnen weigerten, Fort- oder Weiterbildungskurse zu besuchen. Der Hartz-IV-Satz für Singles und Alleinstehende beläuft sich derzeit auf 374 Euro – im Schnitt wurden deren staatliche Leistungen von August 2011 bis Juli 2012 um 106 Euro gekürzt.

Stimmen und Reaktionen

Wolfgang Neskovic, Rechtsexperte der Linkspartei, bezeichnete die Sanktionspraxis der BA in einer Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung als „verfassungswidrig“. „Die Sanktionsnormen gehören sofort abgeschafft. Es zeugt von trotziger Rechtsblindheit, dass die Regierungskoalition an ihnen festhält, obwohl die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem eindeutig entgegensteht“, betonte der Rechtsexperte auf seiner Internetseite und fügte hinzu, dass die Sanktionen dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums widersprächen.
Andrea Nahles (SPD) äußerte sich gegenüber der „Rhein-Zeitung“ ebenfalls kritisch. „Immer mehr Druck auf Arbeitslose schafft keine neuen Arbeitsplätze. […] Wenn die Bundesregierung auf der einen Seite die Mittel für die aktive Förderung deutlich zusammenstreicht und auf der anderen Seite die Sanktionen zunehmen, gerät aber etwas in Schieflage“, betonte die SPD-Politikerin. Nach ihrer Einschätzung zeigen die Zahlen auch, dass man sich von dem ursprünglichen Motto „Fördern und Fordern“ abgewendet habe. Offenbar stehe „nur noch das Fordern im Mittelpunkt“.
Das Erwerbslosen-Forum Deutschland warf den Jobcentern eine „blinde Sanktionswut“ vor. Beim Verhängen von Sanktionen ließe man keine schlüssigen Begründungen noch besondere Umstände gelten. Sogar Hochschwangere, die im siebten Monat keinen Ein-Euro-Job mehr annehmen wollten, würden sanktioniert werden. Zeitarbeitsfirmen seien Profiteure dieser „Zustände“. Diese würden die Arbeitslosen mit Stellenangeboten überhäufen, die dann entweder nicht vorhanden seien oder die Menschen in eine prekäre Beschäftigung brächten.
Wolfgang Stadler, Bundesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO), wies auf die Probleme des Sanktionssystems hin: „Die Bestrafung führt selten zu der gewünschten Verhaltensänderung, dazu ist in erster Linie ein vertrauensvollen Verhältnis zwischen Arbeitssuchenden und Arbeitsvermittler wichtig.“ Zudem forderte er eine Überarbeitung der Richtlinien.
Pascal Kober, Arbeitsmarktexperte der FDP, hingegen lobte die Strafen und die Ergebnisse des Jahresberichts. Sie seien ein Beweis für die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt und die Folge einer „effizienteren Betreuung der Arbeitslosen“ durch die Jobcenter; zudem steige die Zahl von Jobangeboten. Grund zur Beunruhigung gebe es also nicht. Auch eine Abschaffung des Sanktionssystems oder den Aufschub von Strafen schloss der FDP-Politiker aus. „Das Prinzip des Förderns und Forderns muss Bestandteil unseres Sozialsystems bleiben“, betonte Kober.
Ilona Mirtschin, die stellvertretende Leiterin der Presse- und Marketingabteilung der Bundesagentur für Arbeit, warnte vor einer Überbewertung der ermittelten Zahlen. Die Missbrauchsquote von Hartz IV liege bundesweit bei 3,2 Prozent und somit in einem niedrigen Bereich. Insgesamt habe man die mehr als eine Million Sanktionen ‚nur‘ gegen 146.000 Hartz-IV-EmpfängerInnen verhängt. 96,8 Prozent der 4,35 Millionen Erwerbsfähigen Hartz-IV-EmpfängerInnen würden sich an die Vorschriften und Gesetze halten.
Dieser Wert zeigt, dass es nicht die Sanktionen sind, welche die Prekarisierung der betroffenen Menschen fördern – vielmehr ist es die verallgemeinernde Berichterstattung, die zu einer öffentlichen Prekarisierung der Hartz-IV-EmpfängerInnen beiträgt. Auch die Lobeshymnen der FDP schaden in diesem Diskurs mehr, als dass sie einen konstruktiven Beitrag leisten.
 

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