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Der nicht ohne Weiteres verständliche Begriff „Gender Mainstreaming“ erklärt sich wie folgt: „gender“ bezeichnet im Englischen das Konzept der Geschlechterrolle des Menschen, die soziale Seite seines Geschlechts, im Unterschied zu seinem biologischen Geschlecht (englisch „sex“). Der Begriff „Gender“ wird auch in der deutschen Fachliteratur verwendet, da das deutsche Wort „Geschlecht“ beide Bedeutungen haben kann (die soziale wie die biologische). „Mainstreaming“, zu deutsch „in den Hauptstrom bringen“, bringt die Absicht zum Ausdruck, Konzepte oder Wertvorstellungen in der Gesellschaft zu etablieren. „Gender Mainstreaming“ bedeutet also übersetzt, das Gender-Konzept zu etablieren. Im weiteren Sinne ist das Erreichen einer auf dem Gender-Konzept basierenden, durchgängigen Gleichstellungsorientierung bei politischen Vorhaben gemeint.

gender vs. sex

Der Unterschied zwischen Gender und biologischem Geschlecht wird an der Verschiedenheit und Vielfalt der Geschlechterrollen in den menschlichen Kulturen sowie am historischen Wandel der Geschlechterrollen innerhalb von Kulturen deutlich. So ist der Beruf der Schullehrkraft in der heutigen BRD deutlich von Frauen dominiert und Grundschullehrkraft gilt als typischer Frauenberuf. Doch mussten sich Frauen den Weg ins öffentliche Lehramt im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts erst erkämpfen und waren teils bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein als Lehrerinnen zahlreichen Benachteiligungen und Schikanen ausgesetzt. Beispielsweise verbot das von 1880 bis 1919 geltende Lehrerinnenzölibat den Lehrerinnen zu heiraten. In Baden-Württemberg gab es das Lehrerinnenzölibat bis 1956.
Die zunehmende Gleichberechtigung der Frauen in der BRD führte zu einem kontinuierlichen Anstieg des Frauenanteils bei den Lehrkräften. Im Jahr 1969 machte die Einführung der familienpolitischen Teilzeitbeschäftigung im Beamtenverhältnis den Lehrerinnenberuf für Frauen attraktiver. So wurde aus einem ursprünglich männlich dominierten Beruf nach und nach ein klar weiblich dominierter Beruf. Wobei gerade auch die heutige weibliche Dominanz im pädagogischen Bereich vom Standpunkt einer Gleichstellungsorientierung her kritisch zu betrachten ist. Auf jeden Fall zeigt sich auch an der Veränderung des Frauenanteils bei den Lehrkräften im Laufe der letzten 150 bis 200 Jahre die starke Wandelbarkeit des Gender, im Gegensatz zu dem meist feststehenden biologischen Geschlecht.

Gleichstellung

Doch warum überhaupt Gleichstellung? So fragen sich viele. Reicht Gleichberechtigung denn nicht aus? Für einen Teil der Frauen und Männer, der zu Nonkonformität fähig ist und bei dem die sozialen Widerstände nicht zu stark ausfallen, bietet unsere Gesellschaft – trotz möglicher Hindernisse – in der Tat schon viele Möglichkeiten, um in Bezug auf die eigene Männlichkeit oder Weiblichkeit zu sich selbst zu finden und um Lebensstil, Berufswahl und Lebensweg dementsprechend zu wählen. Doch sehr viel mehr Frauen und Männer werden immer noch unnötigerweise in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit, ihrer Fähigkeiten und ihres Potentials eingeschränkt. Auf gesellschaftlicher Ebene ergeben sich aus der Nichtbeachtung der Interessen und Bedürfnisse von Jungen und Mädchen, von Frauen und Männern, in vielen Bereichen teils gravierende Probleme.

Jungen als Verlierer

Beispielhaft sollen hierfür die Jungen im Schulsystem der heutigen BRD betrachtet werden. Gehören die Jungen nach den PISA-Studien, den vom Familienministerium herausgegebenen Bildungsberichten und zahlreichen anderen Untersuchungen doch inzwischen zu den Verlierern unseres Schulsystems. Mädchen haben hierzulande im Durchschnitt schon seit einigen Jahren bessere und höhere Schulabschlüsse als Jungen. Fast jedes dritte Mädchen schafft das Abitur, während dies nur jeder fünfte Junge tut. Jungen sind zudem an Haupt- und Förderschulen überrepräsentiert, verlassen die Schule häufiger ohne Abschluss, ihre durchschnittliche Lesekompetenz hinkt denen der Mädchen deutlich hinterher und sie sind öfter verhaltensauffällig als Mädchen. Der schulische Rückstand der Jungen zu den Mädchen scheint sich während der Schullaufbahn zu verfestigen und von Jahr zu Jahr zuzunehmen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Eine Rolle spielt jedenfalls, dass die Schulen heutzutage in zweierlei Hinsicht „weiblich“ orientiert sind: zum einen in Bezug auf den Frauenanteil der Lehrkräfte, zum anderen bezüglich der schulischen Ausrichtung auf Sozialkompetenz und sozial-kommunikative Fähigkeiten. Besonders letzteres kommt tendenziell den Mädchen entgegen, da Mädchen Sprache stärker zur Beziehungspflege gebrauchen und sich auch eher sozial erwünscht verhalten als Jungen.
Den Jungen fehlt es im pädagogischen Bereich, besonders bis zur weiterführenden Schule, meist an männlichen Identifikationsfiguren für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Auch in der Familie mangelt es den Jungen oft schon an der Identifikationsmöglichkeit mit dem Vater. Sei es, dass der Vater wenig zuhause ist, sei es, dass gar kein Vater da ist. Dieser Mangel an männlichen Geschlechterrollenvorbildern führt bei vielen Jungen dazu, dass sie ihre Männlichkeit durch eine negative Abgrenzung von Mädchen und Frauen definieren oder diversen Männlichkeitsmythen anhängen. Solch ein Verständnis von Männlichkeit und der Drang, sich dergestalt „männlich“ zu inszenieren, bringt den daran leidenden Jungen schulische Probleme und behindert sie im Entdecken ihrer eigentlichen Männlichkeit. Schließlich entsteht so ein Nährboden für spätere Frauenfeindlichkeit.

Teil 2 folgt in der nächsten Ausgabe.

 

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