Peter* aus Bochum hat sich ziemlich kurzfristig dafür entschieden, ins Wendland zu fahren. Als der Tag X näher rückte, setzte der überzeugte Fahrradfahrer und Umweltaktivist alles in Bewegung, um doch noch in die Nähe von Gorleben zu kommen. Die Schienen hat er während der gesamten Zeit nur von Weitem gesehen: Gemeinsam mit dem niederländischen Kochkollektiv Rampenplan hat er die AktivistInnen vom Camp Gedelitz aus mit warmem Essen versorgt. „Es war faszinierend zu sehen, wie es möglich ist, für 2.000 Leute zu kochen. Ohne diese Infrastruktur wäre der Protest nicht möglich gewesen“, ist Peter beeindruckt von dem Engagement der niederländischen Volxküche.
Effektiver Protest, renitente Landwirte
Im Camp Gedelitz hatten sich bereits am Freitag jene DemonstrantInnen gesammelt, die sich auf das Showdown des langen Protestwochenendes vorbereiten wollten: Die Straßenblockade der Kampagne „X-tausendmal quer“ auf den letzten Metern vor dem Zwischenlager in Gorleben. Und das mit Erfolg: Über 40 Stunden lang leisteten 4.000 TeilnehmerInnen sitzend zivilen Ungehorsam – bis Dienstagmorgen um kurz vor halb acht, als es der entkräfteten Polizei schließlich gelungen war, alle Atomkraft-GegnerInnen wegzutragen.
Dass es so lange gedauert hat, lag nicht allein an den „X-tausendmal quer“-BlockiererInnen. Mit unzähligen Treckerblockaden verhinderten die einheimischen Bauern die Verlegung von Polizeihundertschaften, von Räumpanzern und Wasserwerfern. „Die Blockaden waren extra so angelegt, dass die ProtestlerInnen-Autos gerade noch so durchkamen; die Polizei mit ihren größeren Einsatzfahrzeugen hatte dagegen keine Chance. Mehrfach habe ich gesehen, wie Einsatzkolonnen feststeckten oder abdrehen mussten“, freut sich Andreas über den handfesten Widerstand der einheimischen Bevölkerung. Er kommt aus Essen und ist gemeinsam mit der Bochumer Studentin Ina im Camp in Metzingen untergekommen, die ergänzt: „Auch sonst haben wir von den Landwirten großartige Unterstützung erhalten. Die Bauern haben die Versorgungswege der Polizei blockiert, uns aber auf einem Hof zu einer heißen Kartoffelsuppe eingeladen – ohne Fragen, einfach so.“ In Gesprächen mit den Landwirten sei spürbar gewesen, dass sie die Polizei als Besatzungsmacht wahrnehmen, die mit zehntausenden schwer bewaffneten Einsatzkräften in ihren Landstrich einfällt, um einen Atomtransport durchzuprügeln, den hier keiner wolle.
Vielfältigkeit
Schon unmittelbar an der französischen Grenze stellte sich dem Castor dieses Jahr eine erste Massenblockade in den Weg. Zusammen mit weiteren Ankett- und Kletteraktionen sorgten diese Proteste bereits dafür, dass der Zug zehn Stunden verspätet in Lüneburg ankam. Von hier aus hatte er eigentlich nur noch ein kurzes Schienenstück von 50 Kilometern bis zum Verladebahnhof in Dannenberg zurückzulegen – wäre da nicht der massive Widerstand der Bevölkerung gewesen. Das lokale Blockadebündnis „Widersetzen“ mobilisierte über 5.000 Menschen zu einer Schienenblockade bei Harlingen. Die Polizei musste die Räumung immer wieder verschieben, weil die Einsatzkräfte bereits zu erschöpft waren. Als es losging, brauchten die BeamtInnen dafür mehr als sieben Stunden, also praktisch die gesamte Nacht von Sonntag auf Montag, und verfrachteten die BlockiererInnen zum Teil unter Gewaltandrohung und -anwendung bei eisiger Kälte in einen improvisierten Freiluftknast.
Neue Strategie: Schottern
Was die Polizeikräfte über die Grenze der Belastbarkeit hinaus gefordert hatte, war die Vielfältigkeit des Widerstands. Neben spektakulären Greenpeace-Barrieren, Kletteraktionen, kreativ-renitenten LandwirtInnen und den Massen-Sitzblockaden musste sich die Polizei in diesem Jahr mit einer neuen Aktionsform auseinandersetzen: Bereits im Vorfeld hatte ein breites Bündnis aus 1.500 Personen und knapp 300 Organisationen öffentlich angekündigt, die Schottersteine aus dem letzten Schienenabschnitt zu entfernen, um ihn so für den Atomtransport unbefahrbar zu machen. Auch Andreas und Ina haben sich am Sonntagmorgen aus dem Metzinger Camp auf den Weg zu den Gleisen gemacht – gemeinsam mit etwa 2.000 anderen Schotter-AktivistInnen. Die Schotter-Kampagne bewerten sie insgesamt differenziert. Natürlich sei es gerechtfertigt, zu dieser Form des praktischen Widerstands zu greifen, wenn die hochgefährliche Atompolitik gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden soll. „Viele waren aber auf die Gewalt der Polizei nicht vorbereitet“, sagt Andreas. „Auf den Aktionstrainings und Vorbereitungsplena hieß es immer wieder: Die Polizei ist nicht unser Gegner. Viele haben sich naiv darauf verlassen, dass die PolizistInnen sie nicht verletzen, wenn sie der Polizei auch nichts tun.“ In den Augen der Bochumer und Essener AktivistInnen ein schlimmer Fehler: „Den Vormittag lang hat das dazu geführt, dass Hunderte von DemonstrantInnen auf die Schienen gelaufen sind, um sich von der Polizei übel verprügeln zu lassen“, sagt Andreas.
Verletzungen, Brüche, Platzwunden
Die Bochumer Studentin Judith, die ebenfalls beim Schottern dabei war, ergänzt: „Die Polizei hat Tränengasgranaten aus einem Helikopter abgeworfen. Die erste Welle, die ernsthaft versuchte auf die Schienen zu kommen, musste Schlagstockprügel, Tränengasschüsse und Tritte der Polizisten in Massen ertragen. Das war alles andere als verhältnismäßig, da wir unbewaffnet waren und der zuvor ausdiskutierte Aktionskonsens vorgab, die PolizistInnen nicht anzugreifen.“ Seit Jahren hatte die Polizei keine Tränengasgranaten mehr im Wendland eingesetzt. Nach offiziellen Zahlen der Kampagne „Castor Schottern“ kam es bei den brutalen Polizeieinsätzen zu über 1.000 Verletzten: Das Bündnis zählte insgesamt 950 Augenverletzungen durch Pfefferspray und CS-Gas, 16 Knochenbrüche, 29 Kopfplatzwunden und drei Gehirnerschütterungen.
Die Brutalität des Polizeikonzepts wird nicht nur die Castor-GegnerInnen, sondern auch die offizielle Politik in den kommenden Wochen weiter beschäftigen. Ebenso wie weitere Rechtsverletzungen, welche nicht nur die AktivistInnen, sondern auch PolitikerInnen der Grünen der Polizei vorwerfen: Über den wohl illegalen Prügeleinsatz französischer Polizisten auf den Gleisen in Deutschland kommen immer mehr Details an die Öffentlichkeit. Aufklärung zum lebensgefährlichen Pfeffersprayeinsatz gegen einen Baumkletterer abseits der Castor-Strecke steht ebenfalls noch aus. Der Polizeieinsatz führte dazu, dass der Kletterer aus dem Baum stürzte und sich einen Brustwirbel brach. AugenzeugInnen werfen der Polizei vor, dass sie den Schwerverletzten nicht angemessen versorgt hat, sondern ihn sogar noch dazu zwang, 200 Meter weit zu laufen.
* Die Namen in diesem Artikel wurden von der Redaktion geändert.
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