Schon mit seinem skandalträchtigen Auftritt beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb im Jahre 1983 schrieb sich der noch junge Autor als feste Größe ins kollektive Gedächtnis der Medienwelt ein. Im Punk-Outfit (gefärbte Haare, Turnschuhe, Hundehalsband um das Handgelenk) las er dort den Text Subito, der mit folgendem Pop-Manifest endete: „Wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, kühn, totalitär, roh, kämpferisch und lustig, so muß geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt. […] Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop.“
Blut, kein Pipifax
Während der Lesung ritzte sich Goetz zudem mit einer Rasierklinge die Stirn und kommentierte diese blutige Angelegenheit mit den Worten: „es muss doch BLUTEN, ein lebendiges, echtes rotes Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn, wenn kein gescheites Blut nicht fließt, dann ist es bloß ein Pippifax“. Der popkulturelle Blick auf die Wirklichkeit, den Rainald Goetz am Schluss seiner Lesung auch für die Literatur einfordert, scheint für ihn eine adäquate Möglichkeit, die Informations- und Eindrucksflut, die für die heutige Gesellschaft – zum Beispiel durch das Aufkommen der neuen Repräsentationsmedien – zum Alltag gehört, zu beschreiben. Dabei bedient sich Rainald Goetz – insbesondere in seinen früheren Arbeiten – sowohl filmischer Motive und Techniken als auch der Comic- und Cartoon-Ästhetik, fügt seinen Texten eigene Collagen aus Zeitungsartikeln und Fotos bei, referiert auf literarische und wissenschaftliche Werke und erwähnt Bandnamen, Songtexte und Konzerte. Insbesondere die populäre Kultur bietet ihm dabei ein großes Zeichenreservoir, auf das er mittels literarischer Aneignung zurückgreifen kann, um seine Autorenrolle immer neu zu konstituieren. Rainald Goetz‘ Postulat einer ‚realistischen‘ bzw. ‚authentischen‘ Schreibweise, die aber um die grundsätzliche Differenz von Literatur und Leben weiß, bestimmt bis heute seine literarische Produktion. Sowohl das Internettagebuch „Abfall für alle“, das Rainald Goetz am 4. Februar 1998 mit den Worten „Los geht’s“ beginnt, als auch sein Blog Klage, den er für das Magazin Vanity Fair von Februar 2007 bis Juni 2008 betreibt, belegen Rainald Goetz´ Wunsch, sein Selbstverschriftlichungsprojekt auch auf die digitale Welt auszuweiten, um eine gewisse Präsenz zu generieren.
Versuch über Gegenwartsmöglichkeit
Nicht die Interaktivität stand für Rainald Goetz dabei im Vordergrund, sondern die „Geschwindigkeit“, die „Gegenwartsmöglichkeit“, die „Aktivitätsnähe“, die das Medium Internet der literarischen Rede scheinbar bietet: „Schneller schreiben, freier, näher dran am intellektuellen Augenblick und Reflexionsgeschehen, als alle anderen, formal von Anfang an auf etwas Fertiges hinsteuernden Textarten es einem erlauben.“ Die unmittelbare Anbindung der literarischen Arbeit an das Internet wirft dabei eine Vielzahl an Fragen auf: Wie beeinflusst das Internet die Form der literarischen Rede? Wie unterscheiden sich die dabei entstehenden Texte von anderen autobiographischen Formen? Welche Rolle spielt dabei der Begriff der Authentizität? Welche medialen Rückkopplungen und Interferenzen können dabei entstehen? Â
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Markus Tillmann
ProSeminar: „Das einfache wahre Abschreiben der Welt – Die Internet-Tagebücher Abfall für alle und Klage von Rainald Goetz“
Freitag 8.30-10.00 Uhr, GB 04/414
Beginn der Veranstaltung: 24.04.200
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