Folge eins: Luftbewegungen

Die moderne Gesellschaft hat ihre Mitglieder so angeordnet, dass sie nach Schichten separiert vor sich hinleben können, ohne mit den Mitgliedern der angrenzenden Gruppen in Kontakt treten zu müssen. Dafür sorgen getrennte Wartebereiche in den Flughäfen, differenzierte Freizeitgestaltungsangebote in allen Bereichen. Musik, Kleidung, Filme, Theater bieten für jeden Geschmack etwas, und man kann sich immer öfter entscheiden, wo man konsumiert: in der Öffentlichkeit oder in der Privatsphäre (vulgo: zu Hause).

Der Geschmack ist dabei der einzige Selektionsmechanismus, der darüber entscheidet, mit wem man Raum und Zeit zu teilen wünscht, vorausgesetzt man hat nicht zu hohe Ansprüche, die das eigene Budget nicht zu befriedigen in der Lage ist (Es würden sich wahrscheinlich relativ leicht Leute finden lassen, die gerne mit Paris Hilton dinieren würden, aber es gibt wesentlich weniger Leute, mit denen Paris Hilton tatsächlich dinieren würde).
Nun ist es so, dass diese Trennung der verschiedenen Gruppen die meiste Zeit gewährleistet ist. Doch in einigen Situationen wird aus der fein getrennten, geschichteten, klassifizierten Gesellschaft ein einziger indifferenter Haufen, in dem plötzlich alle in einem Boot sitzen (oder in einer Straßenbahn, wie noch zu zeigen sein wird).
Auslöser für dieses Verschwinden der gesellschaftlichen Grenzen ist heutzutage eine Störung im Betriebsablauf. Immer wenn es aufgrund nichtplanbarer Vorgänge zu Unterbrechungen des normalen, weil mit ausreichender Sicherheit erwartbaren, Funktionierens schichtübergreifend operierender Organisationen kommt, lösen sich die eingefahrenen Grenzen auf.
So zeigte sich im letzten Winter, dass zur biologischen Reproduktion der deutschen Bevölkerung offenbar gravierende Störungen im Bereich der Stromversorgung vonnöten sind. Aber auch ganz normale, weil alltäglichere Kleinkatastrophen haben jene schichtenübergreifende Störungsfunktion: gravierende Verspätungen der Bahn beispielsweise. Ein solches Klassentreffen wurde bisher zumeist durch die Freigabe der zuschlagsfreien Benutzung der ICE-Züge durch Inhaber sogenannter Verbundtickets gewährleistet, also eine Vermischung durch die Erlaubnis, Fernverkehrsmittel mit Nahverkehrskarten benutzen zu dürfen. Wer einmal Zeuge war, wie die mit Lidl-Tüten bepackten Horden des öffentlichen Personennahverkehrs ein Ruheabteil eines ICE in Beschlag nehmen, ihre Feierabendbierflaschen effektvoll mit knalligem Ploppen mit Hilfe eines Feuerzeugs öffnen, ihre Musik vermittels Handylautsprecher verbreiten etc., während zwei Sitze weiter ein Bankmanager an einer Powerpointepräsentation zu arbeiten versucht und eine Dame im schwarzen Versacekostüm entnervt ihren Roman beiseite legt, um sich ihre Hörorgane mit Ohropax zu versiegeln, weiß wovon die Rede ist.

Der Türke kommt!

Wer bei Meldungen wie „Orkan Kyrill legt Kölner Hauptbahnhof lahm“ an einen marodierenden Anatolier gedacht hatte, ging zwar fehl, hatte aber mit Sicherheit nette Bilder im Kopf. Nun hat jener Orkan einen ganz ähnlichen Effekt auf das Zusammenleben der Klassen zu zeitigen vermocht. Auch er sorgte dafür, dass vorher nicht für möglich gehaltene Bekanntschaften gemacht wurden. Durch die von ihm (dem Orkan) verursachte Sperrung der gesamten Bahnstrecken durch das Ruhrgebiet (eine Kausalität, wie sie nicht von jedem beobachtet werden muss, schließlich kann es auch ein Befehl aus höheren Etagen der Deutschen Bahn gewesen sein, der von Bahnmitarbeitern als Grund für ihr Nichtarbeiten [Loks bedienen etc.] angegeben wurde), waren zahlreiche sogenannte Reisende des Fernverkehrs plötzlich gezwungen ihre Reise anders fortzusetzen als geplant. Die schnellste Möglichkeit von Düsseldorf nach Dortmund zu gelangen bestand zeitweise darin, mit der Straßenbahn von Stadt zu Stadt zu fahren (also zuerst nach Duisburg, dann von dort nach Mühlheim, dann nach Essen von dort nach Gelsenkirchen usw.). Das mag manch einen komfortgewohnten ICE-Reisenden schockiert haben: all jene vor sich hinbrabbelnden Gestalten, all diese Döner, wie sie täglich zu tausenden in den Straßenbahnen verzehrt werden und ihren Teil zu saurem Geruch und fleckigen Sitzen beitragen, all jene betrunkenen und wankenden, ihre Mitfahrer anrempelnden, Partyopfer, denen man jederzeit das Erbrechen ihres Mageninhalts (ein McDonald’s Megamenü, das in einem Ozean aus Wodka-Red-Bull vor sich hin dümpelt?) zutrauen darf.
Doch welche gesamtgesellschaftlichen Effekte hatte diese Unterbrechung noch, außer dass man endlich wissen kann, wie die Angst aussieht (cashmerebemantelter Geschäftsmann der in der Straßenbahnlinie 302 seinen Samsonitetrolly samt Laptoptäschchen umklammert wie ein Schiffsbrüchiger ein Holzfass)?

Kinder des Orkan(s)

Wer weiß schon, ob nicht auch der orkaninduzierte Stop des Bahnverkehrs demografische Effekte haben wird („Ach, sie kommen hier auch nicht mehr weg? Wie wär’s wenn wir uns ein Zimmer teilten? Da können wir richtig Geld sparen. Schauen sie doch nur einmal die Preise für Einzel- und Doppelzimmer an und ziehen sie ihre Schlüsse.“)? Auch die Möglichkeit von Pendlern, sich bei ortsansässigen Kollegen einzunisten, wird eine Rolle gespielt haben, wenn man in neun Monaten die ersten Berichte über die „Orkankinder“ zu lesen bekommt. Die Familienministerin hatte insgeheim sicherlich für einen kompletten Zusammenbruch des Stromnetzes auf Wochen hinaus gebetet, darin die letzte Rettung vor der Vergreisung der Gesellschaft erblickend.
Das gesamtgesellschaftliche Reflexionsmoment dieser Unterbrechung des Normalablaufs dürfte in der unerwartet aufgetretenen Notwendigkeit gelegen haben, seine Freizeit in einer fremden Stadt gestalten zu müssen. Primär hatte dies sicherlich eine Nacht der Freude für das Hotelgewerbe zur Folge, da viele Reisende einfach nicht mehr weiter konnten und deshalb ein Zimmer für die Nacht brauchten (dies stellt, neben Fußballgroßereignissen, die einzigen Möglichkeiten der Stadt Gelsenkirchen dar, Touristen zum bleiben zu bewegen: Bahngleissabotage und Oberleitungsmanipulation).
Eine Unterbrechung funktioniert immer nur im Kontrast zum Normalablauf (und der Normalablauf nur Dank gelegentlicher Unterbrechungen?). Der einohrige Vincent van Gogh bemerkte in diesem Zusammenhang: „Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“

Benz

0 comments

You must be logged in to post a comment.