Von lockeren Schrauben
und gestohlenen Gänsen
Am Tag der Thesenanbringung durch Martin Luther (31.10. = Halloween), nur eben einige hundert Jahre später, fand in der Dortmunder Reinoldikirche ein Konzert statt. Grund genug, diesen Ort aufzusuchen und zu schauen, was die Kirche, so lange Zeit nach Martin Luther, so alles zu bieten hat.

Zum einen trafen wir einen Gestörten und zum anderen eine anthroposophische Dame im Moralgewand. Das Moralgewand hatte dabei naturgemäß eine anthroposophische Farbe, sowie eine anthroposophische Form, orange und schlabberig hing es an der anthroposophisch Angehauchten herunter. Sie ist also eigentlich nicht bloß als anthroposophisch angehaucht zu bezeichnen, sondern vielmehr als anthroposophisch umhüllt. Und ebenso wie sie sich selbst anthroposophisch umhüllt, so umhüllte sie ihre Zuhörer mit ihren anthroposophischen Lehrfabeln und Geschichtchen, die so offensichtlich zum Nachdenken anregen sollten, dass man eigentlich nur noch darüber nachdenken konnte, wie jemand auf den Gedanken verfallen kann, ausgerechnet solche offensichtlich zum Nachdenken anregen sollenden Lehrgeschichtchen vorzutragen.
Klatsch und Tratsch
Und so saß man und dachte: Warum trauen sich alle anderen Menschen in der Kirche nur zu flüstern (auch: zu tuscheln?), während die anthroposophische Dame sogar lauter als nötig redet und auch noch ein Mikrofon benutzt, um ihre Stimme und mit ihr auch jene Lehrgeschichten mittels Lautsprecher über den gesamten Raum zu verteilen? Es wäre nun ganz überflüssig, wollte man hier diese Geschichten im Einzelnen nacherzählen und sich alle Details erneut vorhalten. Nur so viel sei angedeutet: Die lehrreichen Geschichtchen waren alle auf eine ganz ähnliche Weise aufgebaut, wie die nun folgende kurz angerissene Geschichte von der kleinen Schraube, die beschließt sich zu lockern und nicht mehr ihren Dienst tun will, bei der Fixierung eines tragenden Schiffsteils einfach nicht mehr mitmachen will, ihre Pflicht und so weiter nicht mehr erfüllen will und alle anderen Teile fangen dann auch davon zu spinnen an, dass sie ihre Pflicht nicht mehr erfüllen wollen, ihre Freiheit haben wollen und so Sachen, bis dann schließlich die Lage eskaliert und die Schraube zur Räson gebracht werden muss, damit das ganze Schiff überhaupt noch als Schiff funktionsfähig bleibt. Und naturgemäß wird die kleine rebellische Schraube von den anderen Teilen des Schiffs (Dampfkessel, Spanten, Seemannsgarn usf.) so lange unter Druck gesetzt, bis sie schließlich klein bei gibt und das ganze Schiff wieder Kurs auf das rettende Ufer und also zum Land hin nehmen kann. Nicht sehr lehrreich für all diejenigen, die sich schon mal gefragt haben, was für Planken, Nägel und andere Schiffsteile so erstrebenswert daran sein soll, wieder an Land zu kommen. Ähnlich packende Geschichten wurden zu den Themen „Individuum und Entscheidung“ (merke: Lass dich nicht von dem beeindrucken, was die anderen sagen! Male dein Fahrrad lieber direkt in der Farbe Grün an.), aber auch „Leben und Leben lassen“ erzählt (Die Maus, die dem Löwen über die Tatze huscht und diesen mittels ausgefeilter Argumentation dazu bringt, sie nicht zu fressen und ihn dafür als Gegenleistung zu einem späteren Zeitpunkt aus einer misslichen Situation [Gefangennahme mittels Netz] herausnagt). Soviel zum anthroposophisch umhüllten Teil der Sache. Nun zum gestörten Part.
Der gestörte Part wurde primär von einem Herrn übernommen, der insofern irritierte, als dass er sich vom nahegelegenen Mittelaltermarkt eine baldige Beruhigung seiner selbst (also des Mittelaltermarkts an sich) herbeisehnte, obwohl von diesem nur noch ganz leises Gemurmel aus letzten Trinkhornverkaufsgesprächen in die heiligen Mauern der Kirche drang. Der Gestörte betonte mehrfach seine Hoffnung auf baldige Ruhe, die aber für alle anderen schon bereits hörbar, weil nicht hörbar, eingetreten war. Sodann verkündete er das Programm: Musik und erbaulich-anthroposophische Brocken, und forderte das Publikum zum Sichtreibenlassen auf. Und darauf erklang das erste Bachpräludium von der mächtigen Kirchenorgel her.
Mukke
Danach immer wieder im Wechsel Musikalisches (teils vom Gestörten und seiner saxophonierenden Begleiterin, andernteils von der Orgel vorgetragen) und anthroposophische Lehrstücke, vorgetragen stets von der fülligen Dame im orangen Kaftan (wohl bemerkt: ob ein Bernsteinbrocken an einem Lederriemen um ihren Hals baumelte, blieb unter den Zuschauern der letzten Reihe bis zum Schluss ein umstrittener Punkt). Besonders entzückend im musikalischen Part: Improvisationen auf „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“, vom Gestörten sehr gefühlvoll auf dem Konzertflügel dargebracht.
Sinn
Wem dieser Text bis hierher zu „sinnlos“ war, sei noch auf folgenden Umstand aufmerksam gemacht, über den er/sie dann ja noch nachdenken kann: Die Sockel der Säulen in der Kirche waren noch mit dünnen Resten von Goldfarbe bedeckt. Wie man weiß, waren die Kirchen zu früheren Zeiten ja auf das bunteste angepinselt gewesen. Heute dagegen sind die Kirche von ihrer Innengestaltung her ja nur noch als Ruinen zu bezeichnen. Der gelangweilte Leser oder die gelangweilte Leserin mag also gerne versuchen, im ruinierten Zustand der Kirchengebäude eine Allegorie auf den Zustand der Kirche als Organisation zu finden. In Hinsicht auf mögliche Kirchenbesuche in der Zukunft noch ein Wort zu den angebotenen Sitzkissen: Man nehme ihrer drei.

Benz

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