Unterschiedlicher könnten die Quellen der mahnenden Stimmen kaum sein: Nicht allein die literarisch-politische Ikone der 68er, Hans-Magnus Enzensberger, sondern selbst der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Frank Schirrmacher, warnen derzeit vor einer sukzessiven Abschaffung von Bürgerrechten. So verwundert es nicht, dass sich am Samstag bei der bundesweiten Demo unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ etwa 20.000 Menschen unterschiedlichster politischer Couleur am Potsdamer Platz zusammenfanden, um in der Hauptstadt gelbe, orange, rote und grüne Flaggen gegen Überwachung und Datenmissbrauch zu zeigen. Derweil verkündet die Kanzlerin kaltschnäuzig, noch nie wissentlich überwacht worden zu sein. Vielleicht meidet die Dame ja grundsätzlich Bahnhöfe, Flughäfen sowie Tankstellen und schreitet auf ihren Staatsbesuchen stets mit geschlossenen Augen durch die endlosen kameraüberwachten Hochsicherheitstrakte. Doch trotz der kanzlerischen Überwachungsignoranz verstehen es auch andere AkteurInnen erstaunlicherweise kaum, das politische Vakuum zu überwinden: „Meine Daten gehören mir“, verkündet etwa eine Piratenfrau auf orangem Plakatpapier und geht visuell mit der Botschaft schwanger, indem sie sich den Schriftzug vor den Leib hält. Naheliegende Assoziationen zu feministischen Kampagnen für eine Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218 lassen jedoch eher daran denken, dass der weiterhin von Eurokrise, Energiewende und Kita-Plätzen überlagerte Überwachungswahn als Hauptwahlkampfthema nie das Licht der Politwelt erblickte. Ließen die ersten Enthüllungen des Geheimdienst-Dissidenten Edward Snowden noch sämtliche Alarmglocken schrillen, erwies sich das politische Establishment rasch als unwillig, notwendige Details über die tatsächliche Tragweite des weltweiten Überwachungsskandals in Erfahrung zu bringen – geschweige denn, auch nur bei einheimischen Kommunikationsdienstleitern eine umgehende Einstellung des Datenabflusses zu erwirken. So drängt sich der Eindruck auf, dass der mediale Snowden-Hype eher dazu dienen sollte, die Bevölkerung an die Normalität totaler Internet-Überwachung sowie zunehmend auch des öffentlichen Raumes zu gewöhnen. Auch die parlamentarische Opposition erwies sich – abgesehen von den üblichen bürgerrechtlichen Feigenblättern wie dem grünen Fundi-Urgestein Hans-Christian Ströbele und Teilen der Linkspartei – als überwiegend unfähig, sich das Thema anzueignen und die politische Priorität zu erkennen, BürgerInnenrechte zu bewahren. Insbesondere die SPD – allen voran Kanzlerkandidat Peer Steinbrück – hat die Chance ungenutzt verstreichen lassen, den Erhalt von Grund- und Freiheitsrechten in den Fokus eines Wahlkampfes zu rücken, der inmitten einer gesamtgesellschaftlichen Krise erstaunlich ruhig verlief. Die Schockstarre vor der Großen Koalition? Eine solche jedenfalls hat in Deutschland schon einmal zum Entstehen einer Massenprotestbewegung beigetragen, als im Mai 1968 die restriktiven „Notstandsgesetze“ im Bundestag verabschiedet wurden. Vielleicht überwindet das Bedürfnis nach Freiheit ja nach der Wahl die Angst und bringt noch einmal eine Massenbewegung hervor, um die Warnung vor Datenraub und Kameraüberwachung von den Piratenplakaten ins wirkliche politische Leben zu tragen.