Sotschi ist vorbei und die Verantwortlichen der deutschen Mannschaft wie auch der Medien sind irgendwie enttäuscht. Gut, Platz sechs in der Gesamtwertung ist ein schlechteres Abschneiden als 2010 in Vancouver, der aber auch irgendwie nicht gut genug war. Die nun zur Schau getragene Enttäuschung ist allerdings hausgemacht, hat man doch wieder einmal aus der Luft gegriffene Medaillenziele ausgegeben, um dem eigenen Geltungsbedürfnis Ausdruck zu verleihen. Gute Einzelleistungen, ob nun mit Podest oder Top-Ten-Platz honoriert, treten hinter einem Statistikfetischismus zurück, der seinesgleichen sucht.

Für viele Olympiafans, vor allem aber VerbandsfunktionärInnen und MedienvertreterInnen, ist vor allem eins wichtig. Wie steht es im Medaillenspiegel? Frei nach Schneewittchen (passend zu einer Winterolympiade) lautete das Motto nach jeder Einzelentscheidung: Spieglein, Spieglein an der Wand, was ist das beste Sportlerland?

Gemessen an den vielen Entscheidungen, die durch Zielfotos und Sekundenbruchteile entschieden werden, scheint das bloße Abzählen von Gold, Silber und Bronze wie eine einfache Rechenübung. Doch hier irrt der Laie. Je nachdem, wo man die Entscheidungen verfolgte, ergab sich ein anderes mediales Zerrbild. Amerikanische FernsehzuschauerInnen werden felsenfest davon überzeugt sein, zweiter in der Gesamtwertung geworden zu sein, denn für die übertragende NBC ist die Gesamtmedaillenzahl ausschlaggebend für das Ranking. Angesichts vieler knapper Entscheidungen wirkt es mitunter sogar fairer, die verschiedenen Edelmetalle gleichwertiger zu behandeln, aber die Variante mit den Gesamtmedaillen scheint eher darin begründet, dass es die Sportnation USA besser dastehen lässt, vor allem wenn die Förderung eher in die Breite in sehr viele unterschiedliche Sportarten geht. Im deutschen Fernsehen folgt man der auch vom IOC benutzten Zählweise und richtet sich nach der Zahl der Gold-, dann Silber-, schließlich der Bronzemedaillen. Da wäre die USA Vierter. Deutschland wäre nach beiden Zählweisen Sechster. Das kuriose ist, dass der Anschein, Deutschland habe zur Halbzeit in Sotschi geführt, allein an mehreren Siegen in der ersten Woche lag, denn von der Gesamtzahl lag Deutschland auch zur Halbzeit nur auf Rang sechs. Man kann diese Rechenspiele weitertreiben: Ein Kompromiss aus beiden Zählweisen ist das Punktsystem (3 für Gold, 2 für Silber, 1 für Bronze), doch auch hier bleibt Deutschland unverrückbar auf dem sechsten Rang. Der Online-Auftritt des ZDF erlaubt zudem eine Einrechnung von Top-8-Platzierungen, was immerhin dem Gedanken „Dabei sein ist alles“ etwas mehr Rechnung trägt, und schließlich sogar eine Gewichtung nach Bevölkerungszahl, durch welche die Wintersportnation Norwegen klarer Spitzenreiter ist. Auch im so genannten Ewigen Medaillenspiegel – nur für die Winterspiele natürlich – ist Norwegen Erster, oder doch nicht? Im „Guardian“ bestand darüber vor den Spielen kein Zweifel, und da Norwegen auch bei diesen Spielen besser abschnitt als Deutschland, dürfte sich daran nichts geändert haben. In Deutschland zählt man hingegen anders, und da es keine offiziellen Ewigen Medaillenspiegel vom IOC gibt, kann man sich diesen nach Belieben zurechtbiegen. Nach allgemein vertretener Meinung ist Deutschland im Ewigen Medaillenspiegel vor Russland und Norwegen Wintersportnation Nummer Eins. Deutschland und Russland sind aufgrund der Ereignisse des 20. Jahrhunderts auch sporthistorische Sonderfälle. Es gibt Ewige Medaillenspiegel, welche die Bundesrepublik Deutschland und die DDR getrennt aufführen. Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR wird in diesen Fällen auch getrennt von dieser betrachtet. Dabei lässt sich die Frage, ob Russland in Rechtsnachfolge der Sowjetunion auch die Medaillen dieser Zeit gehören, viel eher bejahen als im deutschen Fall. Die Bundesrepublik sah sich rechtlich in Nachfolge des Deutschen Reiches, die DDR wurde dagegen in Abgrenzung dazu gegründet und mit der Wiedervereinigung in die Bundesrepublik eingegliedert. Es scheint jedoch fraglich, warum die vielen DDR-Medaillen der Gesamtschatz deutscher Olympiamedaillen zugeschlagen wurden, wo doch die DDR aufgehört hatte zu existieren und die wiedervereinigte BRD nicht deren rechtliche Nachfolgerin war? Auch aus rein sportlicher Sicht erscheint es rückblickend unfair, sich als beste Wintersportnation zu gerieren, wenn man jahrzehntelang mit zwei Nationalteams und damit doppelten Chancen antrat.

Wenn es aber der Sache dient, in diesem Fall der Pflege sportlicher Eitelkeiten beim Anblick des Medaillenspiegels, werden die Medaillen des DDR in Deutschland gerne genommen. Ganz abgesehen davon, ob diese durch Doping oder ehrlichen Wettkampf errungen wurden, wirkt es schon sehr heuchlerisch, einzig bei ostdeutschem Edelmetall auf die sonst so eifrig betriebene Abwicklung zu verzichten. Wenn man allerdings die sechs Medaillen von den Winterspielen 1936 in Garmisch schon mitzählt, hat man wohl auch keine moralischen Bedenken, 110 DDR-Medaillen aus Winterspielen in die Statistik einzugliedern. Denn ohne diesen dicken Batzen würde sich die Wintersportnation Deutschland schließlich nur auf Platz vier wieder finden. Das wäre für manche FunktionärIn ein etwas dünnes Spiegelbild des eigenen Dünkels. Es lebe der Sport.