:bszkolumne
Ins Netz gegangen. Sie konnte es nicht fassen. Das war es dann wohl gewesen. Da sie nichts anderes tun konnte, beschloss sie zu warten. Und sie dachte nach über ihre Vergangenheit.
Einst war sie eine Königin gewesen. Der Souverän eines ganzen Staates, genau wie alle anderen. Trotzdem hatte sie ihr Leben für das Kollektiv gegeben. Für eine bessere Welt, ein besseres Leben, für alle hatte sie Stunde für Stunde, Tag für Tag geopfert. Ihr Opfer war nicht umsonst, denn es würde ja am Ende belohnt werden. Nicht für sich, für alle anderen tat sie, was sie glaubte tun zu müssen. Die anderen taten ja das gleiche für sie. Ihr Leben für das Kollektiv, das Kollektiv ihr Leben. Das hatte sie geglaubt.
Doch als sie dann eine Spur zu viel von ihrem Leben gegeben hatte, wollte sie es lieber wieder ganz für sich haben. Und als sie merkte, dass auch das nicht mehr möglich war, wollte sie ihr Leben gar nicht mehr haben.
Nachdem das einmal festgestellt war, wurde ihr klar, dass die anderen Souveräne eine der ihren nicht einfach gehen lassen wollten. So souverän war das Individuum dann ja doch nicht. Nachdem man sie das erste Mal gefunden hatte (ihr Fehler – die Dosis war zu gering gewesen), hatte man sie wie eine Verrückte behandelt. Eingesperrt, in eine reinweiße Zelle mit Wänden aus Schaumstoff. Die Arme in ebenso reinweißen Ärmeln vor der Brust geknotet, der Geist umnebelt von starken Tabletten.
Dann war sie wieder entlassen worden in das, was auch sie früher das Leben, die Freiheit genannt hatte. Doch das Leben bedeutete ihr nichts mehr, und frei fühlte sie sich auch nicht. So wandelte sie weiter auf den schon lange ausgetretenen Pfaden ihrer Existenz. Wie auf Schienen verlief ihr Alltag. Schienen in einem unbeleuchteten, kreisförmigen Tunnel. Kein Ende des Tunnels, ergo kein Licht am Ende des Tunnels. Dennoch brachte sie dieser Gedanke auf eine Idee.
Der Öffentliche Personennahverkehr war ihr immer verlässlich erschienen, doch auch Bus und Bahn ließen sie letztlich im Stich. Die Gleise der U-Bahn waren an den Stationen von starren, schier unüberwindbaren Plastikbarrieren verstellt, die sich nur öffneten, wenn dahinter eine Tür den Weg in den neonerhellten Bauch der ewig ratternden Waggons freigab. Kein Spalt, kein Zugang zu den Schienen. Und überall sind Kameras.
Diese kleinen, allessehenden Kästen waren es auch, die Lastzüge und Hochgeschwindigkeitsmagnetstreifenbahnen wie von Geisterhand anhalten ließen. Einmal kam ein solcher nur eine Handbreit vor dem elenden Bündel zu stehen, das sich flach auf den Schienen zusammengekauert hatte. Wütend und enttäuscht war sie aufgestanden und verschwunden, bevor sie wieder in die Hallen der Weißheit gebracht werden konnte. Wenn die Lösung für ihr Dilemma nicht in den Katakomben der großen Stadt lag, musste sich die Antwort wohl auf den Dächern des Molochs verbergen. Sie ließ sich den Wind um die Nase wehen und meinte, die Freiheit auf ihrer Zungenspitze schmecken zu können. „Die Freiheit schmeckt also wirklich süß“, dachte sie sich, als ihr Gedankenstrom langsam, aber sicher die Enge ihres Kopfes verließ.
Traumwandlerisch setzte sie erst den ersten, dann den zweiten Fuß in die Böen, die den Wolkenkratzer umgaben. Wie in einem gläsernen Fahrstuhl zog die Welt an ihr vorbei, ehe ihr Tiefflug jäh, aber sanft gebremst wurde. Netze an den Außenwänden? Ernsthaft? Auf was die anderen nicht alles gekommen waren. Wie eine Fliege klebte sie auf dem Netz, bis die Kolonie ihre Königin wieder holen kam.