Tschechow, Badenweiler, Die NOKIA-Bahn und eine gelungene Inszenierung.
Nach Moskau!
Nach ausverkauften Vorstellungen werden im Bochumer Künstlerprojekt „Rottstraße 5“ vier weitere Vorstellungen von Tschechows „Drei Schwestern“ gegeben. Was Tschechow dazu gesagt hätte? Wir wissen es nicht.
Die Schwestern Olga, Mascha und Irina sitzen im Haus ihres Bruders und wünschen sich ein besseres Leben. Die Erfüllung im Beruf und in der Liebe können sie in der russischen Provinz nicht finden und wollen deshalb zurück „nach Moskau“, in ihre geliebte Heimatstadt, wo sie sich mehr Aufregung und Selbstverwirklichung erhoffen. Daraus wird nichts: Alle drei stecken in ungeliebten Berufen, Ehen und Liebschaften fest und werden unglücklich. Dass die „Rottstraße 5“, in der das Stück aufgeführt wird, unter den Gleisen der NOKIA-Bahn liegt und die Szenerie dann und wann von kleinen Erschütterungen aufgrund der darüber hinweg fahrenden Züge heimgesucht wird, finden die über die Aufführung berichtenden Journalisten dabei höchst erwähnenswert. Verzweiflung bei den Schwestern UND bei den bald arbeitslosen Arbeitern, raffiniert!
Nun hatte Anton Tschechow beim Schreiben seines Stückes sicher vieles im Sinn, aber einen raffgierigen finnischen Hersteller von Mobiltelefonen vermutlich nicht (aber: wir wissen es nicht). So ist der Bezug auf die Arbeitslosigkeit im Deutschland des 21. Jahrhunderts ein eigenwilliger, aber offenbar doch wenig origineller Gedanke, denn mindestens drei Redakteure hatten denselben. Tschechow sagte „In dreißig Jahren wird jeder Mensch arbeiten! Jeder!“, aber Arbeitskämpfe und Tarifverträge waren nie der Mittelpunkt seines literarischen Schaffens. Nun kann ihm natürlich mangelndes revolutionäres Bewusstsein vorgeworfen werden. In vielen seiner Werke beschreibt er das kleinbürgerliche, zaristische Russland, in dem Individuen auf der Suche nach Selbstverwirklichung regelmäßig an der Realität scheitern. „Eine Krise kann jeder Idiot haben. Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag.“, meinte er. Und um den Alltag in einer Gesellschaft mit wenigen Perspektiven drehen sich auch seine Stücke. Nun war Tschechow sicher kein Feind der Arbeiter – einer der Liebhaber in den „Drei Schwestern“ gibt etwa seinen Posten als Offizier auf, um seine berufliche Erfüllung fortan in einer (oha!) Ziegelei zu suchen – aber auch kein politischer Aktivist, der sich zu jeder Zeit und Unzeit an die Seite der Unterdrückten stellte, um lauthals Parolen zu krakehlen, mit Fahnen zu schwenken oder auch nur betroffen dreinzuschauen (siehe auch: Oskar Lafontaine, Hannelore Kraft). Tschechow hat den Menschen dann geholfen, wenn er es konnte. Als Arzt behandelte er arme Patienten umsonst, und er ließ den Schriftsteller Maxim Gorki in seinem Haus nahe der Stadt Jalta übernachten, als der zu einem Schlafverbot in Städten verurteilt wurde. In seiner Arbeit als Künstler pflegte er eher den eleganten Ton und übte trotzdem Kritik an der russischen Gesellschaft während der Zarenzeit. „Der Kluge lernt, der Dummkopf erteilt Belehrungen“, lautet eines seiner Zitate, und daran hat er sich gehalten.
Wer Tschechow unbedingt mit Kausalitäten in der BRD in Zusammenhang bringen will (NOKIA!), der wird in seiner Biografie trotzdem fündig. Seine letzte Reise führte den schlauen Fuchs ins südbadische Badenweiler. Tschechow, seit seinem 24. Lebensjahr lungenkrank, reiste im Jahr 1904 auf Anraten seines Arztes in den Kurort, den er absonderlich fand. „Badenweiler ist ein sehr origineller Kurort, aber worin seine Originalität besteht, ist mir noch nicht klar geworden.“, schrieb er nach Russland. Lange musste er dort nicht ausharren, denn bald nach seiner Ankunft war er tot. Badenweiler – bis heute fast in dem Zustand konserviert, den der Schrifsteller damals gesehen haben muss – hatte ihn auch nicht mit offenen Armen empfangen. Aus dem großbürgerlichen „Hotel Römerbad“ wurde er weggeschickt: dort wünschte man keine Lungenkranken. Als „…reich, aber sehr unbegabt.“ beschrieb Tschechow seiner Schwester die Musik im Kurpark, „Man verspürt keinen Funken Talent, in nichts, keinen Funken Geschmack, aber dafür Ordnung und Ehrlichkeit im Überfluss.“ Eine Statue haben ihm die Bewohner der Stadt trotzdem gebaut, kurz vor dem Ende des ersten Weltkriegs wurde sie allerdings zu Rüstungszwecken eingeschmolzen. Zu einem Gedenkstein zwischen „einer Morinda-Fichte und einer Sumpfzypresse“ hat es Mitte der Sechziger gereicht, eine neue Statue für den verlassenen Sockel gab es erst 1989 wieder. Vier übernächtigte Russen brachten sie in einem Militärlastwagen von der ehemaligen Verbannungsinsel Sachalin in Ostsibirien. So steht also heute ein bronzener Riesentschechow in einer Stadt, die er nicht mochte, und drei junge Schauspielerinnen auf der Bühne unter der NOKIA-Bahn. Kathrin Ebmeier, Studentin der Theaterwissenschaften, hat sich das Ergebnis angeschaut:
„Martin Fendrich hat einen nichtnaturalistischen Stil gefunden, um die Frage hinter dem Zerbrechen auf der Bühne zu stellen. Warum gehen sie nicht? Musik, Licht und Bühnenbild sind von ihm geschickt komponiert. Fendrich lässt die Schauspieler auf der Bühne rauchen, essen und trinken. Genau da liegt eine große Qualität der Inszenierung. Essen, Alkohol trinken und auch Rauchen sind Bedürfnisse. Und können süchtig machen. Er inszeniert Bedürfnisse und Sucht. Sehnsucht. Ein menschliches Bedürfnis? Ein Traum der nicht wahr wird, den man immer wieder träumen kann, motiviert so sehr, wie er kaputt macht. Ein Ziel, das man sich setzt, aber nie erreicht, hält einen in Bewegung, genauso sehr, wie man kurz vorm Aufgeben ist. Dieses Spannungsfeld lässt sich in einer kleinen Galerie mitten in Bochum in einer Off-Theater Inszenierung miterleben. So sehr wie jeder es auch irgendwie von sich selber kennt.“ Die zusätzlichen Vorstellungen finden am 19. und 20. April und am 11. und 24. Mai jeweils um 20 Uhr statt. Mehr Infos: www.rottstr.5.de
sjn