Der Bizarromant Heinrich Lerchenwald muss sich vor dem internen Gericht des Leonardsbundes verantworten. Er habe bei der Registrierung einer Seele eigenmächtig und entgegen seiner Order gehandelt und sei damit Schuld an der Verletzung seiner selbst und vier weiterer Personen. Lerchenwald verteidigt sich, es seien seine Begleiter gewesen, sogenannte Freischärler, die die Registrierung durch den Einsatz von Schusswaffen in eine gefährliche Situation verwandelt hätten. „Durch Ihren Alleingang sahen sie sich aber zum schnellen Eingriff genötigt, um Ihre Sicherheit vor der Seele zu gewährleisten“, entgegnet der Richter, ein spinnenähnliches Wesen aus rotem Metall, das fest mit der Richterbank verbunden ist. Der Bizarromant sieht damit die Ziele seiner wissenschaftlichen Arbeit und seines Arbeitgebers verraten. Er versprach sich eine Heilung der Seelen, stattdessen ginge der Leonardsbund dazu über „die Seelen in die Luft zu sprengen“.
Mit Volldampf voraus!
Auf Lerchenwalds Seite ist sein Vorgesetzter Herr Hirschmann. Während Lerchenwald nur eine metallene Handprothese trägt, ist an Herrn Hirschmann nur noch wenig Menschliches auszumachen: Ein dampfbetriebener Roboter mit riesigen Armen, unten dünne Beine, oben eine Kugel, die grob an einen Kopf erinnert.
Der Comic „Steam Noir“ von Zeichner Felix Mertikat und den TexterInnen Verena Klinke (ab Band 2) und Benjamin Schreuder (Szenario und Text in Band 1) spielt in einer dystopischen Welt. Undurchsichtige Bünde und Kartelle nutzen ihre Macht, ihre Interessen durchzusetzen und gehen dafür auch über Leichen. Sie spinnen ein Netz aus Lügen und Intrigen, in das die Helden verstrickt und das die Helden zu entwirren versuchen. Die Geschichte vom Helden, der auf eigene Faust gegen die Interessen seines Auftraggebers handelt, ist nicht neu. Doch bezieht der Comic seinen Reiz nicht aus dem Plot, sondern aus dem Szenario, der Kulisse, in dem die Geschichte spielt, und seiner optischen Umsetzung. Diese Dystopie nämlich ist nicht in der Zukunft angesiedelt, sondern in einer alternativen, fantastischen Vergangenheit.
Denn alle Maschinenmenschen und Menschmaschinen, Panzerwagen und Fluggeräte sind dampfbetrieben. Steam Noir entwirft eine Welt, in der der Dampfkraft eine wichtige Rolle zukommt. Eine Rolle, die sogar die der heutigen Elektro- und Informationstechnologie übersteigt. Die Welt von Steam Noir erinnert in Architektur, Mode und Sprache an Epochen von der viktorianischen Zeit bis ins Nazideutschland, die Technik ist unserer aber überlegen – und doch veraltet, denn sie sind dampfbetrieben. Fantastisch wird’s wenn diese Welt noch von Seelen, die aus dem Totenreich zurückkommen, heimgesucht wird.
Steampunk und Film Noir
Damit ist Steam Noir eindeutig dem Steampunk zuzurechnen, einer Strömung in Kunst und Literatur, die sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit erfreut. Dabei erfindet der Comic das Genre nicht neu, bietet tatsächlich kaum Neuerungen und Innovationen, sondern nimmt alle wichtigen Elemente des Steampunks auf und fügt sie in ein atmosphärisches Gesamtbild zusammen. Der Reiz des Steampunks ist es gerade, heutige Technologien mit der Ästhetik und gesellschaftlichen Umwelt des 19. Jahrhunderts darzustellen. Dann heißen Computer Differenzmaschine und Datenträger sind Informationskabinette. Steampunk sind damit radikal weiterentwickelte, dabei weniger visionäre Jules-Verne-Geschichten, gerne überhöht und überzeichnet und ums Übernatürliche erweitert. Gleichzeitig führt uns das auch vor Augen, dass Technologien, die uns heute revolutionär erscheinen, morgen schon veraltet sein können, dass die Elektrotechnik das gleiche Schicksal wie die Dampfmaschine ereilen könnte.
Dabei ist diese Strömung nicht auf Literatur und Comics beschränkt. Mediale Aufmerksamkeit genießen Handwerksarbeiten, die zum Beispiel einen Computer aussehen lassen wie eine Rechenmaschine mit Jugendstil-Dekor. In Video- und Computerspielen wie auch in Filmen oder Tabletop- oder Rollenspielen und vor allem in der Literatur finden sich immer öfter Steampunkelemente. Paradox ist, dass gerade eine Strömung, die so von optischer Ästhetik lebt, im Comic bislang wenig Niederschlag gefunden hat.
Steam Noir ist die erste deutsche Erscheinung dieser Art. Wer sich mit einer dieser Was-wäre-wenn-Welten vertraut machen möchte, sei ein Blick in den Band empfohlen, dem Geist des Steampunks wird hier zumindest in gestalterischer Hinsicht optimal Rechnung getragen.
Steam Noir – Das Kupferherz 2
Cross Cult Verlag – 16,80 Euro
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