Als „historisch“ wird das Ergebnis der Bundestagswahl in den Mainstream-Medien bezeichnet: Während die Kanzlerin mit dem zweithöchsten Zugewinn ihrer Partei das Tor zur dritten Amtszeit aufstieß, wurde ihr bisheriger Koalitionspartner erstmals in der Geschichte der Republik aus dem Bundestag gevotet. Damit haben die WählerInnen einer Fortsetzung des bisherigen Regierungskurses eine klare Absage erteilt und Spekulationen über schwarz-grüne Optionen mehr denn je die Tür geöffnet.
Wenn das Wahlergebnis jedoch eines deutlich macht, dann dies: Ohne eine rot-rot-grüne Alternative wird es auf absehbare Zeit keineN sozialdemokratischeN KanzlerIn mehr geben. Trotz eines Zugewinns von 2,7 Prozent muss sich die SPD mit dem zweitschlechtesten Resultat seit Gründung der BRD abfinden. Dennoch wäre nun zum zweiten Mal nach 2005 ein Bündnis mit Grünen und Linken, die sich erstmals als drittstärkste Fraktion etablierten, möglich. Und auch wenn Spitzenkandidat Peer Steinbrück solchen Gedankenspielen am Wahlabend wiederholt eine Absage erteilte, hat sich die Erkenntnis verfestigt, dass er nur durch eine rot-rot-grüne Koalition Kanzler werden könnte. Sollte es beim steinbrückschen Tabu bleiben und es nicht zu vorzeitigen Neuwahlen kommen, wäre erst 2017 eine Alternative zur bisherigen deutschen Regierungspolitik links der Mitte denkbar – wenn die diesmal knapp gescheiterte nationalkonservative „Alternative für Deutschland“ (AfD) keinen Strich durch die Rechnung macht und sich die großen Parteien abermals in eine Große Koalition flüchten.
Großkoalitionäres Rumgedümpel?
Auch die Möglichkeit der Beteiligung als Juniorpartner an einer dritten Großen Koalition seit 1966-69 und 2005-09 hat Steinbrück jedoch ausgeschlossen, sodass es zumindest eines personellen Wechsels an der Fraktionsspitze bedürfte, falls ein in den nächsten Tagen einzuberufender SPD-Konvent eine Abkehr von dieser Linie beschließen sollte. Dies könnte jedoch einen erneuten Absturz der Sozialdemokratie zur Folge haben, wie dies nach dem letzten großkoalitionären Experiment 2009 der Fall war, als die Partei einen Rekordabsturz von 11,2 Prozent verzeichnete, während die CDU/CSU mit einem Rückgang von 1,4 Prozent vergleichsweise glimpflich davonkam.
Schwarz-Grün oder Neuwahlen?
Geht man vom derzeitigen Stand der Dinge aus, gäbe es gegenwärtig nur die Option eines schwarz-grünen Feldversuchs oder baldiger Neuwahlen. Sollten entsprechende Koalitionsverhandlungen nicht an der Merkel-Partei scheitern, sondern an einem ablehnenden Votum der grünen Basis, könnte die CDU/CSU im Falle von Neuwahlen vielleicht tatsächlich erstmals seit Konrad Adenauers letzter Kanzlerwahl 1957 auf eine absolute Mehrheit hoffen. Einen Strich durch die Rechnung könnte jedoch der Einzug der FDP oder gar der AfD in den Bundestag machen. Insbesondere ein Erfolg der AfD, die diesmal mit 4,8 Prozent nur knapp scheiterte, könnte die Bildung einer Großen Koalition geradezu erzwingen. Andererseits könnte ein schwarz-grünes Experiment bedeuten, dass das Machtsystem Merkel nach der FDP einen weiteren kleinen Koalitionspartner verschleißen könnte, der es danach vielleicht nicht mehr in den Bundestag schaffen würde – zumal sich viele WählerInnen verprellt fühlen dürften, wenn sich die Grünen hierfür hergäben. Dann jedenfalls hätte sich das ‚System Merkel‘ wahrlich totgesiegt.
Kampf um jede Stimme
Historisch war bei der aktuellen Bundestagswahl zudem, dass sämtliche zuvor im Bundestag vertretenen kleineren Parteien zum Teil große Verluste zu verbuchen hatten – allen voran die Liberalen mit einem Minus von 9,8 Prozent; und auch, dass es sowohl bei der Frage einer laut erster Hochrechnungen zeitweise möglich erscheinenden konservativen Alleinregierung sowie beim Scheitern zweier Parteien an der 5-Prozent-Hürde um wenige Promille ging. Dass zuweilen tatsächlich jede Stimme zählen kann, zeigte das Erststimmenergebnis in Essen, wo alle drei Direktmandate an die CDU gingen: Im Wahlkreis Essen III betrug der Vorsprung des CDU-Kandidaten Matthias Hauer jedoch nur drei Stimmen – wären zwei der auf ihn entfallenden 59.043 Stimmen an die SPD-Kandidatin Petra Hinz gegangen, hätte Hinz statt Hauer den Einzug in den Bundestag geschafft.
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