Weil eine Verwaltungsreform nicht auf den Weg gebracht wurde, können kranke Kinder nicht für Operationen ins Ausland. Weil das nicht geht, gingen die Menschen in Bosnien und Herzegowina auf die Straße. Zurzeit ruht die „Babylution“, das Parlament in Sarajevo hat bis zum 30. Juni Zeit, das fragliche Personalkennnummerngesetz zu verabschieden, sonst gäbe es wieder Demonstrationen, so die Drohung der Protestierenden.
Anfang des Monats wurde im Internet der Fall der dreimonatigen Belmina Ibrišević bekannt, die schwer erkrankt medizinische Behandlung benötigte, welche in ihrem Geburtsland Bosnien und Herzegowina nicht verfügbar war. Allerdings konnte sie nicht ausreisen, weil sie – wie alle seit Februar 2013 in der Balkanrepublik Geborenen – keinen Reisepass ausgestellt bekommen durfte. Spontan wurden Proteste in Sarajevo organisiert. Am 5. Juni versammelten sich mehr als 100 Menschen vor dem Parlamentsgebäude und protestierten. Seitdem wuchsen die Proteste auf Tausende von TeilnehmerInnen an. Provisorische Zugeständnisse der Regierung reichen da nicht aus. Die schwerkranke, drei Monate alte Berina Hamidović starb am 16. Juni in Belgrad, Serbien. Ihr Vater sagte gegenüber den bosnischen Medien, dass die Regierung Bosnien-Herzegowinas Schuld an ihrem Tod sei, sonst wäre es nicht zu den Verzögerungen an der Grenze gekommen, die eine rechtzeitige Operation in Serbien verhindert haben. Doch wie konnte es so weit kommen?
Bereits am 27. Mai vergangenen Jahres entschied das Verfassungsgericht Bosniens und Herzegowinas, dass das Gesetz zur Vergabe von Identifikationsnummern (Jedinstveni matični broj građana, „Eindeutige Bürger-Identifikationsnummer“, kurz: JMBG) nicht mit der Verfassung vereinbar ist. Von diesem Zeitpunkt an hatte die Bundesregierung des Landes sechs Monate Zeit, das Gesetz verfassungskonform zu formulieren. Da dies aber nicht geschah, trat das bisherige Gesetz endgültig außer Kraft. Seitdem gibt es keine gesetzliche Grundlage für die Vergabe von JMBGs. Und ohne JMBG gibt es keinen Personalausweis, keinen Reisepass, keine Geburtsurkunde und auch keine Sozialleistungen wie Krankenversicherung.
Noch problematischer als der deutsche Föderalismus
Ursache für die augenscheinliche Untätigkeit der Regierung sind Kompetenzstreitigkeiten: Seit dem Abkommen von Dayton, das 1995 den Krieg im Lande beendete, ist Bosnien und Herzegowina in zwei Bundesstaaten, sogenannte Entitäten, geteilt, in die Föderation Bosnien und Herzegowina (Federacija Bosne i Hercegovine) sowie die Serbische Republik (Republika Srpska), die beide stark autonom sind. Eines der verfassungsrechtlich relevanten Probleme ist nun, dass die Grenzen einiger Dörfer und Städte über Entitätengrenzen hinausgehen. Die PolitikerInnen konnten sich nicht einigen, ob diese kleinen Gebiete nun Bundes- oder Landesangelegenheit sind.
So wurden bei den Protesten diesen Monat nicht nur Fotos der beiden genannten Babys hochgehalten (was ihnen den Namen bebolucija, also Babylution, einbrachte), sondern auch Stimmen nach Einheit laut. „Wir wollen keine Entität, wir wollen Identität“, soll auf den Transparenten gestanden haben, so berichtete die Heinrich Böll Stiftung. Einerseits geht es dabei natürlich um Identität im Sinne einer ID-Nummer. Andererseits ist es auch ein Signal zur Verständigung unter den Ethnien im Land.
Verschiedene Medien berichten von Versuchen einzelner PolitikerInnen und Parteien, die Proteste als gegen einzelne Ethnien, also Serben oder Bosniaken, gerichtet darzustellen und somit zu instrumentalisieren. „Es geht schon längst nicht mehr nur um Babys und Sozialversicherungsnummern“, zitiert die taz die Demonstrantin Lana Pesic. „Der Bürgerprotest verbindet uns.“
Beruhigen oder brodeln?
Mittlerweile ist es ruhiger geworden auf den Straßen der ehemaligen jugoslawischen Republik. Vor dem Parlament wird dieser Tage nicht skandiert, sondern geschwiegen. „Tišina, Parlament radi…“, („Ruhe, das Parlament tagt…“) heißt die stille Protestaktion, bei welcher die ProtestantInnen ihre VolksvertreterInnen an ihre Pflichten erinnert. Die Situation im Land könnte wieder aufkochen oder sich beruhigen, je nachdem, mit welchen Lösungen die Bundesregierung am Monatsende, dem von den ProtestlerInnen gestellten Ultimatum, aufwarten kann.
:bsz Infobox
Bosnien und Herzegowina hat sich 1992 von Jugoslawien unabhängig erklärt. Dies führte zum Bürgerkrieg, der 1995 beendet werden konnte.Das Land hat 4,6 Mio. Einwohner, von denen sich etwa 48 Prozent als Bosniaken (meist muslimischen Glaubens), 37 Prozent als Serben (serbisch-orthodox) und 14 Prozent als Kroaten (römisch-katholisch) bezeichnen. Amtssprachen sind Bosnisch, Serbisch und Kroatisch, die linguistisch betrachtet allerdings Varietäten einer Sprache darstellen.Die Landeswährung Marka war früher an die Deutsche Mark gebunden, heute entsprechend an den Euro. Bosnien und Herzegowina ist potentieller Beitrittskandidat für die Europäische Union.
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