Tocotronic in Essen – Zündender Zustandspop

Sie sind – immer noch – die Heroen des alternativen Absagens. Im Rahmen ihrer „Kapitulation“-Tour präsentierten Tocotronic in der Essener Weststadthalle zündenden Zustandspop in, für ihre Verhältnisse, ungewohnt opulenten Ausmaßen.

„Sag alles ab – und kapituliere“: Wenn Dirk von Lowtzow seine Verse Richtung Mikro schleudert, scheint es meist, als spräche er durch eine Flustertüte. Der Tocotronic-Frontmann haucht laut – ein Paradoxon, das sich im ohnehin eskapistischen Sound der Truppe schnell auflöst. Er würde sagen, er kämpft gegen sich selbst. Nichts Neues ist das, von Lowtzow hat das auch vor 14 Jahren in Hinterhof-Garagen schon getan. Tocotronic spielen eben konsequent gegen jeden Trend an. Eine gute Erklärung auch dafür, dass an diesem Dienstagabend das gut 1000-köpfige Publikum in der Weststadthalle vom getreuen Mittvierziger bis zum orientierungssuchenden Präpubertären einen verblüffend bunten Mix darstellt. Wer sich keinem Trend unterwirft, gerät nicht in die Mühlen des Zeitgeistes.
Die wirkliche Erkenntnis von Essen ist aber freilich eine andere. Sound und Show, von den vier Großmeistern der Hamburger Schule in vielen Jahren Bühnenerfahrung immer weiter perfektioniert, werden hinter der Demonstrationslyrik mehr und mehr zum wahren Ereignis eines Tocotronic-Abends.
Rick McPhail etwa erzeugt mit verzerrter Gitarre eine druckvolle Dichte, der kaum zu entkommen ist. Das präzise Schlagzeugspiel von Ex-Punker Arne Zank dient dem als perfekter Verstärker. Das nimmt die Weststadthalle gleich vom ersten Song an gefangen – „Mein Ruin“ vom aktuellen Album „Kapitulation“ führt nicht nur textlich eine von vielen Offenbarungen des Abends an.
Zusätzlich zur treibenden klanglichen Opulenz, gerade der neuen Stücke, bilden von Lowtzow und McPhail auch im Auftritt ein perfektes Gespann. Während der Frontmann hetzt und hadert, ist der Gitarrist die Lakonie in Person. Er raucht und trinkt während der Songs, legt seine Gitarre zwischenzeitlich auf den Boxen ab, spielt relaxed im Liegen, verschiebt die Mikrofonständer ins Publikum. Von Lowtzow postuliert dazu: „Kommt alle mit / Spendet Applaus / Ich bin ein Star / Holt mich hier raus“. Wie wahr. Das hypnotisierte Publikum tat wie ihm geheißen.
Großes Theater ist das, und es bedient sich aller Genres. Als Schlagzeuger Zank die Fußtrommel bricht, spielt von Lowtzow solo die ruhige B-Seite „Andere Ufer“. Am Ende von 115 Minuten, 22 Songs und fünf Zugaben scheinen die Hamburger mit einem trockenen Trash-Outro da angekommen, wo sie einmal waren: Im Garagen-Sound.
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