Innovativ ist nicht nur der Titel, sondern auch die Machart des vierten Romans aus der Feder von Oliver Uschmann: Spielten die beiden ersten Romanteile noch in einer Bochumer Großraum-WG, die zum Laboratorium für allerlei soziale Experimente wie der Gründung einer Agentur zur „Dequalifizierung“ von Akademikern diente, begeben sich die beiden inzwischen fest liierten Pro-tagonisten nach einer Zwischenstation auf dem Lande mit ihren Frauen „on the road“. Auf Autobahnraststätten versucht die mit dem Erzähler-Ich verbandelte Malerin Caterina, unter dem Label „Kunstpause“ in Form improvisierter Mitmach-Ausstellungen „die Kunst zu den Menschen (zu) tragen“. Derweil entwickelt sich Ex-WG-Mitbewohner Hartmut nunmehr vom Online-Lebensberater zum Autor und verfasst in 14 Schritten auf Zetteln eine Art Manifest der Unvollkommenheit und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Seine Rebellion richtet sich dabei gegen all‘ jene belehrenden Stimmen in Medien, Kultur und Politik, die uns vorschreiben wollen, „Wie wir zu leben haben“. Dies ist zugleich der Titel des zusammen mit Rocksänger Axel Bosse produzierten Soundtracks zum Buch (ebenfalls eine Premiere!), zu dem es auch ein im DDR-Museum Berlin gedrehtes eindrucksvolles Video gibt.     Â
Schule macht schizoid
In einer seiner manifestartigen Ausführungen zum ‚Unperfektsein‘ nimmt Hartmut insbesondere das Bildungssystem aufs Korn. Besonders hart geht er mit dem Schulsystem ins Gericht: „Die konventionelle Schule (…) erzeugt Schizoide, indem sie von Tag eins an zwei Direktiven gleichzeitig ausgibt“: „1. Lerne fürs Leben. (…) 2. Lerne gegen die Konkurrenz. Lerne, um zu siegen. Tauche ein in den darwinistischen Dschungel des Kampfes aller gegen alle (…). Übe dich schon heute in Wettbewerb, (…) Mobbing und Intrige.“ Hartmut liefert somit die perfekte Begründung, „warum die Schule Großartiges darin leistet, schizophrene Unperfekte herzustellen.“ Im Zuge der Romanhandlung manifestiert sich der zweite Aspekt in einer rastlos von einem Rastplatz zum nächsten tourenden mobilen Schule namens „Vorsprung“, wo die auch körperlich auf Askese getrimmten Schülerinnen und Schüler schon mit 16 zum Turbo-Abitur gebracht werden sollen.
In ihrer schlimmsten Ausprägung erscheint Hartmut Schule als reinstes „Kampflager“, dessen mobbinggesteuerte Strukturen sich bereits im Kindergarten abzeichnen, wo sich – ganz im Gegensatz zur Rousseauschen These, „der Mensch sei ‚frei geboren‘, von Natur aus gut und entwickele sich erst durch die Gesellschaft zu einem egoistischen Ellbogenkämpfer“ – bereits die künftigen „Rudelführer“ in der „Hackordnung“ herauskristallisieren. Schon in der Grundschule als nächster Etappe verordneter „Trainingscamps für den Gesellschaftseinstieg“ markiere das unperfekte Bildungssystem oftmals einen unseligen Kulminationspunkt kindlicher Traumatisierung, die in dem Wunsch gipfelt, den Rädelsführer des obligatorischen Schulhofmobbings umzubringen: „Man wünscht sich angemessen früh das erste Mal, einen anderen Menschen auszulöschen.“ Â
Bachelor macht arm
Das absurde System permanenter Wissenskontrolle tue sein übriges, um die psychische Balance zu untergraben und eine chronische Bildungsaversion zu schüren: „Jeder geistig gesunde Mensch entwickelt gegen Wissen, das er nicht für sich, sondern für die Prüfung erwerben muss, eine vom Gegenstand selbst unabhängige Abneigung.“ Im reformierten Universitätssystem findet das Ganze in Zeiten verschulter Modularisierung und gestufter Studiengänge auch in Hartmuts Analyse seine Fortsetzung. So heißt es zum Bachelor-Studium treffend: „Wer hier in den drei Jahren bis zum Abschluss tatsächlich noch mit Leidenschaft lernt, gilt entweder als gestört oder gehört zu der winzigen Elite, die schon jetzt weiß, dass sie als Professor an der Uni bleiben wird. Der Rest sammelt Kreditpunkte, um später Kredite zu sammeln.“
Hartmuts Ideologiephobie
Wie immer in Uschmanns Romenzyklus schießt die Komplementärfigur zum Ich-Erzähler ab und an übers Ziel hinaus. So wird im letzten, am stärksten politisch konturierten manifestartigen Hartmut-Text das breite Spektrum links-alternativen Denkens und Handelns pauschal als „Dogmatismus“ abgekanzelt und als maßgebliche Lebenshaltung mit einem langen Federstrich verworfen: „Ein sicherer Weg für avancierte Unperfekte, sich schnell ins gesellschaftliche Abseits zu manövrieren und dabei formvollendet unglücklich zu werden, ist der Dogmatismus. (…) Den Stoff für die Ausbildung zum betroffenen Moralisten mit Geißler‘schen Stirnfalten finden Sie von Marx bis Misereor, von Bakunin bis Bono und von Wickert bis Weitling. (…) Vertiefen Sie sich in die Details um verbrecherische multilaterale Abkommen, Knebelkredite der Weltbank, Milchpulverskandal von Nestlé, Blutdiamanten, Coltanminen, gegenseitige Unterbietung des Lohnniveaus, Privatisierung oder Genpatentierung, sodass jede einzelne Geschichte nur noch zum Symptom für die einzige große Überzeugung wird, die Sie endlich in völliger Gewissheit teilen: Das System ist grundfalsch, das System muss sterben.“
Das System Oliver Uschmann jedenfalls wird sicherlich weiter auf Erfolgskurs bleiben – denn wenn es nach dem Verlag ginge, könnte der „Hartmut-und-ich“-Zyklus wohl unendlich weitergeführt werden. Man darf also gespannt bleiben, was die Zukunft für eines der größten Newcomer-Talente der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und seine immer zahlreicheren LeserInnen noch alles bereithalten wird.
Oliver Uschmann: MURP! Hartmut und ich verzetteln sich. Roman.
Scherz Verlag: Frankfurt a. M. 2008. ISBN: 978-3-502-11050-7. 445 Seiten. 13,90 Euro.
Video: www.hartmut-und-ich.de
 sowie www.axelbosse.de
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