Fünf gelbgewandete AkteurInnen stürmen ein Fabrikantenhaus und besetzen zeitweilig ein Universitätsgebäude: Dem ehemaligen Bochumer Theaterwissenschaftsstudenten Dirk Schwantes (Interview siehe unten) ist mit seiner „Weber“-Inszenierung der Spagat zwischen Historie und Gegenwart hervorragend gelungen. Zum Teil eng an die Textvorlage von Gerhart Hauptmann angelehnt, wird der rote Faden des dramatischen Geschehens auf einer zweiten Ebene montageartig mit den aktuellen Studierendenprotesten gegen eine zunehmende Ökonomisierung des Bildungssystems verwoben: Mit dem Sturm auf das Haus des Fabrikanten während des historischen Weber­aufstands von 1844 korreliert die Ausrufung der „Freien Universität Bochum“ 2006. Mit während der Aufführung entrollten Banderolen mit Aufschriften wie „Bildet Euch – bildet Banden“ oder „Eintritt: 480 Euro“ wird zudem die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Protests illustriert sowie ein lokaler und zeitlicher Bezug zur überwiegend studentischen Klientel der FestivalbesucherInnen hergestellt. Alles in allem ist diese erstmalige Auftragsinszenierung des megaFON-Festivals ein mutiger Versuch zur Repolitisierung des Theaters und des Publikums, an dessen Leidenschaft appelliert wird, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und bei künftigen Protesten solidarisch zu handeln, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen.

Toller Toller

Auf der ansonsten leeren Bühne steht nichts als ein Holztisch, über dem eine Blechschaufel schwankt wie das Werkgetreu inszeniert: Ernst Tollers Hinkemann (Foto: Sören Berger)Schwert des Damokles. Stille. Dann plötzlich öffnet sich die Schaufel, und eine Flut groben Schotters ergießt sich über den Tisch. In diesem gespenstischen Setting einer Nachkriegstrümmerlandschaft spielt sich das Geschehen der von Anne Sophie Domenz weitgehend werkgetreu inszenierten Tragödie „Hinkemann“ ab, deren kriegsversehrter Protagonist angesichts des Suizids seiner Ehefrau verzweifelt. Während die Hamburger Regisseurin im Publikumsgespräch die spezifische Bedeutung des Gender-Diskurses besonders hervorhebt, besitzt zugleich allein die Wahl, ein Stück des revolutionären Radikalpazifisten Ernst Toller zu inszenieren, zugleich eine allgemeinpolitische Tragweite: Der Zusammenbruch der Paarbeziehung durch die kriegsverletzungsbedingte Impotenz des Protagonisten impliziert gerade in Zeiten, die wie gegenwärtig in Afghanistan von immer blutigeren Kriegseinsätzen unter deutscher Beteiligung geprägt sind, auch eine höchst politische Dimension und verweist auf das Tabuthema des Umgangs mit verkrüppelten Kriegsopfern hierzulande.  Â
In autoreferentiellen symbolhaften Verstrickungen stecken bleibt dagegen „play.Fatzer“ von Martin Kreidt (Mülheim): Zwar versucht er in seiner an das Textfragment „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ von Bertolt Brecht angelehnten Inszenierung mit seinem jungen Ensemble das zuweilen harte, ausgrenzende „Miteinander“ in der Gegenwartsgesellschaft abzubilden, das allzu oft in ein brutales Gegeneinander umschlägt. Die Stärke seiner auf gruppendynamische Prozesse bezogenen Symbolsprache wird jedoch zugleich zur Schwäche des Stücks, indem diese in ihrer Selbstbezüglichkeit hermetisch bleibt und ein „Außen“ nur durch einen weitgehend abstrakt bleibenden Kriegszustand und daraus resultierenden Hunger vage in Erscheinung tritt. Â

Verstörende und befreiende Performances

Der vorletzte Festivaltag beginnt mit einer erfrischenden „lecture performance“ des Hildesheimer Hypo Real Estate Clubs, der mit seiner popkulturell inspirierten, affirmativ-subversiven wissenschaftssatirischen Performance „Shakespeares ‚Der Sturm‘ im Zeitalter postkolonialer Triebökonomie“ umkreist. Denkanstöße zum Wesen psychotischer Gemütszustände sowie über das ungleiche Machtverhältnis zwischen Therapeut und Patient gibt darauf die verstörende Performance „4.48 Psychosis“ nach Sarah Kane durch das „Antigone Project“ (London, Berlin). Die psychologischen Abgründe einer Dreiecksbeziehung schildert zum Auftakt des letzten Festivaltages eindrucksvoll das Figurentheaterstück „Zucker… im Stück oder in Scheiben? eine Versehnsuchung“ von Luise Bose und France Damian (Berlin). Den Abschluss bildet das Schauspiel „gegenüber – Eine Spekulation“ von Jacob Bussmann (Frankfurt), der nicht nur die Grenzen der Sprache, sondern auch des Aufführungsorts auslotet, auf den das Bühnenbild perfekt abgestimmt ist. Alles in allem ganz großes Theater mit einer äußerst geglückten Auswahl der Stücke, von denen man das eine oder andere an etablierten Spielorten kaum zu sehen bekommen dürfte. Völlig zu unrecht – zumal sich auch die schauspielerischen Leistungen der AkteurInnen beim siebten megaFON-Festival auf höchstem Niveau bewegten.

www.megafon-theaterfestival.de

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