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Knapp 600 Quellen haben 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts in drei Jahren aus dem Bestand von mehr als 30 Archiven herausgesucht, ausgewählt und editiert. In dem zweibändigen Werk sind sie nun auch all jenen zugänglich, die sich nicht selbst durch die unzähligen Regalmeter kämpfen können und sich trotzdem nicht mit aggregiertem historischen Wissen zufrieden geben möchten – oder einen lebendigeren Zugang zur Geschichte suchen: Auf trockene Daten und Statistiken verzichtet das Lesebuch weitgehend und legt seinen Schwerpunkt stattdessen auf „wahrnehmungsgeschichtliche“ Quellen. Das schließt den Beschwerdebrief einer Bergmannsmutter, die sich über prügelnde Steiger beschwert, genauso ein wie die an den Kronprinzen von Preußen gerichtete Petition der Zechenbetreiber, die sich gegen die staatliche Direktion des Bergbaus wendet. „

 

Multiperspektivisch“ kann sich der Leser oder die Leserin Geschichte erschließen, selbst Prozesse und Auseinandersetzungen von gesellschaftlichen Akteuren rekonstruieren und nebenbei einen Einblick in das „Look and Feel“ der Epochen bekommen. Um nicht den Überblick zu verlieren und die Quellen besser einordnen zu können, wird jedes Kapitel von einem kurzen Text mit Hintergrundinformationen eingeleitet.

Das Lesebuch ist thematisch in 18 Kapitel gegliedert, die größtenteils chronologisch aufeinander aufbauen. Beginnend im Mittelalter – die früheste Quelle stammt aus dem neunten Jahrhundert – über die Industrialisierung, die Weltkriege, den Strukturwandel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum aktuellen Kulturhauptstadt-Programm in diesem Jahr.

Sagbares im Wandel der Zeit

Wie sehr sich in dieser Zeit Einstellungen, Machtverhältnisse und Diskursregeln verändert haben, wird bei der Lektüre schnell klar. Etwa bei einem Blick ins Jahr 1913: Nachdem auf der Zeche Zollverein eine neue Kokerei den Betrieb aufgenommen hat, häuften sich Klagen von Anwohnern und aus einer nahegelegenen Schule wegen der Gesundheitsbelastungen durch den Rauch. Das Zechendirektorium antwortete, dass die Schule nur bei Südsüdwest-Wind betroffen sei und es deswegen nicht so schlimm sein könne. Außerdem „ist [es] ja ganz natürlich, dass sich die Schulkinder selbst außerordentlich freuen, schulfreie Tage zu bekommen“ – und wenn man ihnen „in suggestiver Weise“ nahelege, dass sie krank seien, würden sie sich diese schulfreien Tage eben verschaffen. Die Kinder seien außerdem nicht krank – es sei ja nur „verschiedentlich Erbrechen vorgekommen“. Was heute nach einem Aufstand in der PR-Abteilung wohl kaum das Unternehmen verlassen dürfte, gehörte damals – zumindest für die Zeche Zollverein – zum Sagbaren.

Ein paar Jahrzehnte später war Ähnliches anscheinend immer noch sagbar, wenn auch nicht mehr ganz so öffentlich. Unter dem Stichwort „Erbötigkeitsplanung“ wurde beim Besuch einer Seminargruppe der Ruhr-Universität bei der Stadt Herne 1971 von einem Verwaltungsmitarbeiter erläutert, wie man Industriebetrieben Investitionen erspart: Indem man ein Wohngebiet zum Gewerbegebiet umdeklariert. Die angrenzenden Industriebetriebe müssten dann weder Grünstreifen anlegen noch teure Vorkehrungen zum Immissionsschutz treffen.

Das Lesebuch ist voll von solchen Dokumenten – es ist eine Reise durch die Epochen einer Region und eine kleine historische Schatzkiste. Die auf immer noch üppigen 1105 Seiten zusammengestellte Auswahl an Dokumenten macht Ruhrgebietsgeschichte auch für Nicht-Historikerinnen und -Historiker erschließbar – und mag den einen oder anderen Abend durch spannende Lektüre versüßen. Die Rote Ruhrarmee hat ihre Antwort übrigens bekommen. Sogar vor halb elf. Die Firma Krupp ließ wissen, dass in der Kanonenstadt Essen leider keine Geschütze vorhanden seien.

Klaus Tenfelde, Thomas Urban (Hg.): Das Ruhrgebiet.  Ein historisches Lesebuch.
Klartext-Verlag, Essen. 39,95 Euro.

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