DJ Westbam ist gerade eingetroffen. Auch er ist völlig überfordert mit der Situation. Ja, es hat Tote gegeben, nun solle er eine ganz ruhige Musik auflegen, um dazu beizutragen, die Massenveranstaltung friedlich und sukzessive aufzulösen. Wie soll er das tun? Kein DJ bringt Trauermärsche zum größten Techno-Event der Welt mit, diesem Lieblingskind der Freizeitgesellschaft. 14 Personen seien bei einer Metalltreppe seitlich der Zugangsrampe tot aufgefunden worden, zwei Leichname an einer Plakatwand. Unruhe breitet sich unter den zumeist jungen Menschen aus, die vor allem über Gerüchte von dem Unglück erfahren. Die Zahl der Toten und Verletzten steigt weiter, dazu die Panik: gefangen in einer gewaltigen Menschenmenge. Viele wollen einfach nur nach Hause, doch auch am Abend geht es am Bahnhof weder vor noch zurück. Dabei sah doch zu Beginn der vergangenen Woche alles so gut aus. Über 2 Millionen Menschen hatten auf dem gesperrten Ruhrschnellweg zwischen Dortmund und Duisburg ein spektakuläres Miteinander zelebriert. Das Projekt „Still-Leben A40“ hätte eigentlich die Wende markieren müssen, in einem Kulturhauptstadtjahr, das bisher eher schleppend in Gang gekommen war. Der Pott könne solche Großveranstaltungen stemmen, was die Menschen hier alle miteinander verbinde, das sei der Wunsch nach Kultur und so weiter und so fort.
Spurensuche
Doch bereits am folgenden Montag kam der erste Rückschlag: Eine Gruppe Kreativer hatte das leerstehende DGB-Gebäude an der Essener Schützenbahn besetzt, um einen kulturellen Freiraum zu schaffen. Der DGB erstatte Strafanzeige. Stefan Laurin von den Ruhrbaronen bat in einem öffentlichen Brief die verantwortlichen Kulturmanger der Ruhr.2010 Dieter Gorny, Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt um Solidarität: Denn „die Besetzer machen das, was Sie als Verantwortliche der Kulturhauptstadt seit langem propagieren: Sie führen alte Räume einer neuen Nutzung für Kultur zu. Sie vitalisieren einen Teil der Essener Innenstadt. Sie eröffnen neue Perspektiven.“ Der Brief blieb unbeantwortet, die Besetzer_innen gaben schließlich auf. An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich, welche Prioritäten die Verantwortlichen im Kulturhauptstadtjahr setzen. Medienwirksame Massenspektakel werden hofiert, die ansässige Szene ist egal. Es geht diesen Herren nicht um Substanz, sondern um Prestige. Nicht um Kultur, sondern um Akquise.
Immenser Prestigeverlust
Die Love Parade hätte niemals in Duisburg stattfinden dürfen. Die Infrastruktur hielt dem Ansturm der Massen nicht stand. Doch alle Vorwarnungen wurden ignoriert, da die Angst vor dem Prestigeverlust im Kulturhauptstadtjahr größer gewesen ist. Als Bochum 2009 die Love Parade absagte, war die Empörung groß (und auch der Verfasser dieser Zeilen konnte sich nicht entblöden, in dieses Horn zu blasen). Heute wissen wir, dass man den Verantwortlichen der Stadt Bochum höchstens vorwerfen kann, erst viel zu spät die Notbremse gezogen zu haben. Selbst das haben die Verantwortlichen in diesem Jahr allerdings versäumt.
Wenn Prestigesucht zu Fahrlässigkeit führt, dann stimmt etwas am Gesamtkonzept nicht. Auch die Unfähigkeit der Verantwortlichen, im Angesicht der Katastrophe ihre Schuld einzugestehen, zeugt nicht gerade von Größe. Stattdessen werden die BesucherInnenzahlen geschönt: Von den kurz vor dem Unglück verkündeten 1,4 Millionen BesucherInnen waren ein Tag später plötzlich nur noch 300.000 übrig.
In diesen Tagen sind unsere Gedanken bei den Opfern und deren Angehörigen. Doch nach der Kondolenz sollten wir alle einmal darüber nachdenken, wie das denn jetzt weitergehen soll mit unserer Ruhr.2010.
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