Die Mobilität nimmt weiter zu. Manche Familien haben zwei oder sogar drei Autos und stehen im Stau. Selbstblockaden werden sichtbar. Was der französische Philosoph Paul Virilio als Dromologischen Stillstand beschreibt, kann für die Literatur durchaus fruchtbar gemacht werden, wie „Der Beifahrer“ beweist. Wenn die Geschwindigkeit den Raum vernichtet und die Zeit verdichtet, ist der Boden bereitet für eine große Lebensbeichte, die mit weniger als 60 Seiten auskommt: Wer war dieser Rolf, den Wolfgang jahrelang in seinem Auto mit zur Arbeit nahm? In der Differenzierung zu dem lebenshungrigen Kleinkriminellen werden für Wolfgang die Fragen nach dem eigenen Leben immer dringlicher. Entlang der Autobahn entfaltet sich ein existentialistisches Frage-ohne-Antwort-Spiel, das leitmotivisch vor allem von einem getragen wird: dem Gefährt mit den vier Reifen. Selbstblockade oder Überlebenskunst?
Alltagsausbruch Bleifuß
Kein Roadmovie kommt ohne das Thema Freundschaft aus. Bei Streletz wird das Thema bis an seine Grenze geführt. Am Friedhof angekommen, wird der lebenslustige Rolf zu Grabe getragen. Wolfgang hat besser auf sich achtgegeben, aber was gewinnt er dadurch? Fragen, die die LeserInnen selbst beantworten müssen, derweil die Jahrzehnte einer Freundschaft an ihnen vorbeiziehen. Der eine hatte dunkle Geheimnisse, dem anderen wird im Gespräch der Schaltknüppel zur Multitasking-Falle.
Getragen wird der Rhythmus von dieser erdigen Streletz-Sprache, die immer auch hart am Pott-Beat vorbeipromeniert – beispielsweise wenn Wolfgang am Autoskooter steht und „ein bisschen Kater im Kopf“ hat. Nebenher wird das Thema Autofahren facettenreich durchdekliniert: vom Autobahn-Flirt der Mutter bis zum Streit mit der Ehefrau – Streletz macht Station. Dabei werden immer wieder überraschende Erkenntnisse zutage gefördert. Im Grunde gehe es darum, sich so aufzuführen, dass einem die Firma regelmäßig Geld überweise, räsoniert etwa Rolf über den Sinn und Zweck von Lohnerwerb und Sozialverhalten. Es ist dieses Augenzwinkern, hinter dem der Autor bei aller Melancholie gelegentlich einen Hoffnungsschimmer durchblicken lässt.
Laufen lassen
Noch deutlicher wird das in der Hörversion von Joachim Hermann Luger. Luger greift in den Text und stößt ihn an. So kommen die Sentenzen ins Rollen. Schade nur, dass der Rezitator pro Kapitel einen eigenen Take nimmt. Die Atemlosigkeit hätte der Immanenz nicht geschadet. Doch wichtiger ist natürlich die Melancholie, der sich der Autor verschrieben hat. Da darf der Fuß auch mal vom Gaspedal genommen werden.
Werner Streletz, der seit den 80ern Kulturredakteur der Bochumer WAZ war, ging unlängst in Rente. Nun, so kündigte er anlässlich seiner Verabschiedung an, wolle er sich ausschließlich der Literatur widmen. Was hat der Ruhrpreis-Träger noch in petto? Wird es zu einem Radikalisierungsschub kommen? Die Versprechen der literarischen Paten Rimbaud und Bukowski könnten nun eingelöst werden. Der nächste Roman ist für Ende des Jahres angekündigt. Es bleibt spannend.
Werner Streletz: Der Beifahrer. Henselowsky Boschmann. 2010. 12,90 Euro
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