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Mahir Günsirays Inszenierung verwandelt den goetheschen Stoff in eine spielfreudige Version und zitiert allegorisch Büchner, Brecht und Kafka. Im Subtext kann nun gelesen werden: Es gibt keine Erlösung, aber eine Menge zu erleben. Denn Gott fehlt, aber Mephisto kommt gleich in achtfacher Ausführung daher. Die multiplen Teile Mephistopheles` bilden ein Schlachtfeld herrlich polymorph-perverser Teufel, die sich promiskuitiv aneinander berauschen. Alle sind in irgendeiner Weise beschädigt, bandagiert oder hinken. Ihre prunkvollen Kostüme waren einst glänzend, heute sind sie abgenutzt. Die verantwortliche Meentje Nielsen hat hier Zierstücke hingeworfen, die sich verschwenden wollen. Dazu die Bühne eines kosmischen Welttheaters als schäbig rotierende Waschkaue mit Devotionalien der bürgerlichen Lebenswelt. Claude Leon gönnt den ZuschauerInnen mit ihrem Bühnenbild eine optische Eskalation massiver Details.

Am Anfang war das Spiel

In der Hölle ist wirklich alles OK, man rülpst und furzt und manchmal haut man sich auch eine rein (Best Boys: Florian Lange und Roland Riebeling), doch dann kommt er: Faust, gespielt von Andreas Grothgar, betritt sinnkriselnd mit einem gequälten und ausgedehnten „Ach!“ die Bühne. Grothgar hat seinen großen Abend. Noch glaubt der Gelehrte, er sei von ihresgleichen. Doch nehmen die Teufel ihn nicht ernst – weder seine Qual, noch seine Sehnsucht. Faust forscht nach dem Anfang. Glaubt ihn zunächst im Wort, im Sinn, in der Kraft zu finden und kommt dann zu dem Schluss: Am Anfang war die Tat. Denn immerhin sei alles Teil dieser Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Und diese Kraft treibt viele Späße mit Faust, der sich auf einen verhängnisvollen Pakt mit den Mephistos einlässt. Nur gut, dass er nach dem Zaubertrank bald Helenen in jedem Weib erkennt.

One-Night-Stand mit Folgen

Aus einem der Teufel wird durch eine an Lacan gemahnende Spiegelszene das Gretchen, dem Faust sogleich an die Wäsche will. Drei der Mephistofiguren beenden die erotische Zusammenkunft, diesen Schnellfick auf dem Ölfass. Therese Dörr gibt das Gretchen – von ephemerer Leidenschaft, die nur allzu leicht in Leidensbereitschaft kippt. Gretchen wird schwanger, ins Hochzeitskleid gezwungen, bringt das Neugeborene um, wird gefoltert und dann hingerichtet. Die Teufel kehren in Hochzeitskleidern wieder auf die Bühne zurück und tanzen um die Szenerie einen makabren Todesreigen. Das Kind wird gekocht und Faust auf einem Teller serviert. Während Gretchen im Kochtopf steht, wird ihr weißes Kleid mit Blut bestrichen; man hört das Brechen ihrer Knochen: knack, knack – hundert Prozent echte Gefühle. „Meine Mutter, die Hur, die mich umgebracht hat. Mein Vater, der Schelm, der mich gegessen hat.“

Ordnung muss sein

Da beginnt auch schon der zweite Teil: Von der kleinen Welt wird nun zur großen Welt geschritten. Der Homunculus, eine Art künstlicher Mensch, beobachtet mit kindlicher Unschuld, was sich hier zwischen den Figuren zuträgt. Er jedoch hat nur den Wunsch, im besten Sinne zu entstehen. Als er auftritt, verkündet er: „Sobald ich bin, muss ich auch tätig sein.“ So bald auch Faust. Nachdem der Schnellficker über sein Gretchen-Trauma ein längeres Nickerchen gehalten hat, erwacht er und will sogleich gestalten. Statt Teufelspakt bedient sich Faust nun zivilisatorischer Errungenschaften. Indem er sich an den Ordnungsvorstellungen eines bürgerlichen Zusammenlebens orientiert, erreicht er genau das Gegenteil. Mit der schönen Helena als archetypischer Frau gelingt es Faust nicht einmal, seinen Sohn Euphorion vor (den selbst begangenen) Fehlern zu bewahren. Als trotzköpfiger Euphorion beweist Marco Massafra an diesem Abend, dass er völlig zu Recht als einer der besten Nachwuchsschauspieler NRWs gehandelt wird.
Das abermalige Scheitern Fausts deutet Günsiray als Vorgriff Goethes auf das Progressive und Zerstörerische der kapitalistischen und postkapitalistischen Welt. Für Günsiray fällt ein nach Höherem strebender Faust – glaubt er sich auch gebildet oder zivilisiert – dennoch seinen Trieben und Sehnsüchten zum Opfer. Im Kleinen und im Großen gilt: „Bist du erst ein Mensch geworden, so ist es völlig aus mit dir.“ Indem Günsiray bei seiner Inszenierung auf den christlichen Gott verzichtet, fällt auch die vermeintliche Annahme eines kosmischen Plans weg, der letztlich sinnstiftend sein könnte. Es obliegt dem Menschen innerhalb des Gegebenen, schaffend tätig zu sein. Doch gibt es keine universellen Konzepte, an denen er sein Tun ausrichten könnte. Vielleicht ist aller Anfang tatsächlich die Tat, aber das menschliche Dasein birgt in jeder Handlung auch immer die Möglichkeit des Scheiterns. Er verliert sich nicht in Spekulationen über Erlösungswege und Lebensführungen. Es gibt nicht das Böse an sich, das sich ausmachen ließe. Es sind immer nur Aspekte, die changieren und einer ständigen Dynamik unterliegen – multidimensionale Phänomene, die von uns als Welt erlebt werden. So war an diesem Abend eine wunderbar verspielte zeitgenössische Darstellung des goetheschen Stoffes zu erleben.

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