Der 16-jährige Karl Rossmann wird von den Eltern verstoßen und nach Amerika geschickt. Rossmann scheitert in der neuen Welt schuldlos. Permanent ist der junge Rossmann Last, Unrecht und Härte ausgesetzt. Rührend in der Wirkung, tragisch in der Konsequenz. Für Rossmann führt der Neuanfang in Amerika in ein Leben, dessen Anlagen bereits in ihrer Grundexistenz beschissen sind. Und irgendwie macht es einfach Spaß dabei zuzusehen, wie diese Welt humorvoll von Klata entlarvt und anschließend auf der Bühne niedergemetzelt wird. Mit seiner Inszenierung öffnet Klata die Logik und die Architektur des Textes für die Dimension des Ereignisses und des Nicht-Gesagten. Das Klischee wird erfahrbar. Denn gewissermaßen parodiert gerade der Zerfall der Illusionen eben jene Härte, die in den Funktionskontexten liegt, in denen Menschen sich bewegen, aber nicht begegnen. Es ist, als hätte Klata zusätzlich einen Fond der Verzerrungen eingerichtet, bei dem sich bedienen darf, wer die Wirklichkeit im Anschluss an die eigene Beschädigung in klischeehafter Umdeutung deformieren will. Aber Klata entwickelt auch eine Gestensprache, die parallel zum Text verläuft. Es ist intensives, körperliches Theater.
Klapp-Prinzip meets Klischeekiste
Der Transatlantikdampfer, mit dem Rossmann in der neuen Welt ankommt, präsentiert sich als riesige Holzwand. Hoch oben an der Reling steht ein expressiv Kaugummi kauendes Footballteam im Captain-America-Dress, das Klischeekaskaden auf Rossmann (Dimitrij Schaad) und den Heizer (Werner Strenger) loslässt. Für die zweite Szene fliegt dem Publikum plötzlich das Bühnenbild der Tankerwand entgegen und legt den Blick auf New Yorks Skyline und seine imposanten Fassaden frei. Das Klapp-Prinzip des Bühnenbilds setzt sich fort. Justina Łagowska hat hier eine fantastische Bühnenbildidee umgesetzt, die in ihrer Symbolsprache ohne Zweifel eine folgerichtige Konsequenz der rasenden Schnelllebigkeit des American Way of Life ist.
Als Hauptdarsteller der Inszenierung legte Dimitrij Schaad eine außerordentliche und durchgängig überzeugende Leistung hin. Aber auch Strenger glänzte in fast jeder seiner Rollen mit Raffinesse im Spiel und Facettenreichtum im Ausdruck. Einzig Kristina-Maria Peters übertraf ihre beiden Kollegen noch und hatte sowohl in der Rolle der Klara als auch mit Therese Bechthold ihren ganz großen Abend. Eine absolut atemberaubende Darbietung. Immer wieder schiebt er stummfilmartige Charlie-Chaplin-Szenen ein und versinnbildlicht damit wortlos die groteske Absurdität der Situationen. Hier verliert sich die Inszenierung jedoch kurzzeitig im Klamauk. Man schießt auf Freddie Krueger, Darth Vader und RoboCop, lernt Englisch und Klavier und isst dabei mit Highspeed Burger. Rossmann wird in den wichtigsten Konventionen geschult und gleichsam von ihnen überrollt. Zwischendurch gibt es einen autoritären Arschtritt für den Flow. Hier fährt Klata die Klischeekiste. Im Laufe des Abends wird klar, womit man es zu tun hat: Die Inszenierung der Inszenierung der Inszenierung. Es sind Kafkas Worte, aber Style und Sprachperformanz entspringen der schrillen Popkultur.
White Trash im Trailerpark
Streckenweise lahmt das Stück, aber langweilig wird es nie. Ein Höhepunkt des Abends: Im wüsten Trailerpark wartet die extravagante Brunelda als Mann-Frau-Transvestit in Plateauschuhen und Samtkostüm (Absolut großartig gespielt von Roland Riebeling) und erteilt dem Publikum eine Lektion in schlechtem Geschmack: „Sofa, du Sau!“ Hier wird nicht mehr geatmet, sondern geröchelt. In einer atmosphärischen Kehrtwende versammeln sich gegen Ende noch einmal alle Figuren zum ganz persönlichen Alptraumkarussel Karl Rossmanns. Begleitet von einem irren Gelächter erscheint schließlich die Projektion eines riesigen Planeten. An dessen Fuße irrt und taumelt der nackte Andreas Grothgar als verzweifeltes menschliches Wesen umher. Mit dem Schlusssatz der letzten Szene erschließt sich Rossmann endlich, worum es sich beim größten Theater der Welt eigentlich handelt. Denn: „Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas.“
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