Die studentische Initiative der RUB stellte in diesem Jahr ein Theater-Festival auf die Beine, das dem Facettenreichtum den Vorzug und dem Zauber des Unperfekten ein Forum gab. Im Rahmen von megaFon standen Vernetzungsgedanken und künstlerischer Austausch im Vordergrund. In diesem Jahr sollten Räume bespielt werden, die explizit keine Theaterräume sind. Die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Raum und die Arbeit vor Ort waren Teil des Festivalkonzepts. So fand die Performance von „Martin & the evil eyes of Nur“ in der chrom Galerie statt, während Evita Birule aus Riga im Orlando tanzte. Aber auch das Jungle-Outlet und die Goldkante wurden bespielt. Von klassisch über postdramatisch war alles dabei, was Theaterherzen erfreuen könnte.
Woyzeck hat ein Kollektivkörperproblem
Das Festival startete mit „Woyzeck – ein Kollektivkörperproblem“ von Gernot Grünewald. In etwa einer Stunde brachte Grünewald das Stück auf die improvisierte Bühne in der Rotunde (Alter Katholikentagsbahnhof). Inkohärent und fragmentarisch – so sieht es also aus, wenn man Büchners Woyzeck attestieren muss, dass er ein Kollektivkörperproblem hat. Doch auch Büchners Textfassung des Woyzeck liegt in Fragmenten vor. Hier zumindest stand Grünewalds Inszenierung ganz in der Tradition des Urhebers. Allein es fehlte dem Stück an Flow und Rhythmus. Das Ausmaß, in dem Wiederholungen eingesetzt wurden, nivellierte die Wirkung dieses Stilmittels eher, als dass es die Inszenierung stützte. Beim Publikum schien die mosaikartige Spielversion jedoch ausnehmend gut anzukommen. Der Applaus war konstant und mag gewiss auch von den großen Fragen des Abends gelebt haben: Wenn der Mensch ein multidimensionales Phänomen ist, wie lässt sich dann seine Geschichte, sein Leiden begreifen, das nicht losgelöst von den Umweltbedingungen zu erklären ist, in denen es entstanden ist? Wo höre ich dabei auf und wo beginnt der andere? Vor allem der konfliktträchtige Widerstreit zwischen Vernunft und Natur trug diese Interpretation des Büchner-Stoffes. Doch auch die Untiefen von Sünde, Schuld und Moral wurden ausgelotet und visuell durchaus mit guten Ideen umgesetzt.
„Kann ich deinen Diskurs mal in den Mund nehmen?“
Der letzte Festivaltag sorgte für reichlich Diskussionsstoff. Auch das anschließende Publikumsgespräch geriet spitzfindig und wenig zimperlich. Denn mit seinem Beitrag setzte sich Malte Schlösser gravierend vom bisher Gezeigten ab. Schon der Titel der Inszenierung „Kann ich deinen Diskurs mal in den Mund nehmen?“ entpuppte sich als treffender Vorgeschmack auf das Machwerk des Berliners. So ein Diskurs liegt immerhin nicht als fassbare Einheit auf der Straße. In der Art, wie sich Menschen ihr Sein zu denken geben, lässt er sich aber durchaus vorfinden. Und Schlösser greift sich, was er kriegen kann, formt ironische Brüche und verliert bei all dem nie die Relevanz und Ernsthaftigkeit seiner Fragen aus dem Blick. Sofern sich sagen lässt, dass René Pollesch für Diskurstheater und Schlingensief für konkrete Handlungsansätze stehen, kann Schlössers Inszenierung als direkte Weiterentwicklung dieser beiden Vorreiter des deutschsprachigen Gegenwartstheaters verstanden werden. Er verweilt nicht bei einer schlichten Kopie, sondern unternimmt den Versuch, im Outfit der Vordenker das Eigene zu entwickeln, um es im Allgemeinen unterzubringen. Nicht nur der Stil des Textes und die Arbeitsweise durchschritten mannigfaltige Gedankendimensionen und verschiedene Themenebenen. Auch die dargebotenen Bilder und der vorrangig theoretische Ansatz stachen aus dem Gros der diesjährigen Inszenierungen des Festivals heraus.
Brüche mit Flow
Es war aber nicht zuletzt die hervorragende schauspielerische Leistung des Mimen-Teams (Bastian Sierich, Lisa Dieringer, Simone Jaeger und Vera Molitor), die unverkennbar den Eindruck erzeugte, dass die Crew erheblich an der Grenze zur Professionalität kratzt. Schlösser schoss ein wahres Gedankenfeuerwerk ab und berührte sowohl aktuelle Lebensfragen als auch universell-menschliche Probleme. Dieser junge Regisseur produzierte originelle und wirkungsvolle Bilder, erarbeitete stimmige Rhythmen und verlor sich dabei nicht im Klamauk. Das Schauspiel strotzte vor gut platzierten Brüchen und erzeugte den nötigen Flow für das zugrunde liegende Theoriekonzept. Die Schauspieler entwickelten eine mitreißende Spielfreude, bewiesen ein Gespür für Timing und überzeugten durch ungeheure Präsenz. Die Inszenierung zeigte dabei anschaulich, was passiert, wenn das symbolische Kapital zum herrschenden Prinzip von Abgrenzung und Ausschluss wird. Der Text bewegte sich auf einem äußerst komplexen Sprachniveau, so dass angesichts des Sprechtempos viel des semantischen Gehalts verloren ging. Der Gewinn für das Publikum wäre an dieser Stelle sicher noch um einiges größer geraten, hätte Schlösser hier ein bisschen Speed und Komplexität herausgenommen. Nur in dieser Hinsicht verpasste er es, auch die eigene Herangehensweise ironisch zu brechen.
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