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In Form eines ausgedehnten Rückblicks erzählt der Protagonist Toland Polk von seinen Erlebnissen in Birmingham, Alabama im Jahr 1963. Von der ersten Seite an, wird kein Hehl daraus gemacht, dass Toland schwul ist. Durch die retrospektive Ich-Erzählung gelingt es, das Publikum in eine ähnliche Erkenntnislage zu versetzen und in den Selbstfindungsprozess einzubinden. Das Coming-Out ist bloß eine Frage der Zeit – irgendwann kann Toland sich selber nicht mehr leugnen. Die Brisanz wird noch dadurch verstärkt, dass unser Held sich in einer ignoranten Gesellschaft aus Rassentrennung und Bigotterie bewegt. Als weißes Mitglied der Arbeiterklasse findet er durch eine Gruppe aus KünstlerInnen und politisch Aktiven nach und nach Zugang zu einer Bewegung, die sich gegen die Diskriminierung wehrt.
Dabei verlaufen die Konfliktlinien und Denkmuster nicht so simpel, wie man annimmt. Tolands Vater zum Beispiel bleut ihm ein, Schwarze zu respektieren. Fast im gleichen Atemzug sagt er aber, dass Weiße ein weiter entwickeltes Gehirn hätten und Schwarze den Tieren näher seien. Christliche Ideen von Nächstenliebe vermischen sich mit blauäugigem Alltagsrassismus. Und das ist noch das harmloseste Beispiel. Unterhalb der kleinstädtischen Apfelkuchen-Gemütlichkeit existieren Hass und Gewalt, die irgendwann auch über Tolands Freundeskreis hereinbrechen.
Durch Tolands Lebenssituation wird er zugleich als Mitglied der Mehrheitskultur aber insgeheim doch als Außenseiter inszeniert. Die Einführung in das progressive Milieu findet langsam statt. Wie Toland werden wir mit einer Vielzahl an illustren Charakteren mit ganz eigenen Vorstellungen und Lebensentwürfen bekannt gemacht. Für ihn – wie auch für uns – stellt sich dann die Frage: Warum sollte gerade ich mich engagieren? Die Angst vor Repressionen lähmt den Helden in seinem inneren Konflikt genauso, wie die Mehrheit der Bevölkerung bei der politischen Ungerechtigkeit. Und wenngleich der Status Quo bequem scheint, ist er doch unerträglich.

Sinnige Neuübersetzung

Wenn Comics als Kunstform verteidigt werden, dann fällt nach Alan Moores „Watchmen“ und Art Spiegelmans „Maus“ auch irgendwann „Stuck Rubber Baby“. Die Graphic Novel bekam beim Erscheinen im Jahre 1995 neben vielen anderen die beiden wichtigsten Auszeichnungen der Comicwelt, den Eisner- und den Harvey-Award, sowie mehrere Preise der queeren Community. Nachdem die alte Übersetzung unter dem relativ willkürlich gesetzten Titel „Am Rande des Himmels“ lange vergriffen war, hat Andreas Knigge das Werk neu ins Deutsche übersetzt. Natürlich gehen gerade bei einer solch authentischen Zeitgeschichte zwangsläufig die Redewendungen, Slangs und Soziolekte verloren. Dennoch gelingt es Knigge im Großen und Ganzen, die Dialoge angemessen zu transportieren. Hier und da fällt allerdings auf, dass sich die Charaktere in hölzerner Schriftsprache unterhalten, wie es leider in vielen deutschsprachigen Comics passiert.
Im Zentrum von Howard Cruses Zeichnungen stehen ganz klar Gesichter. Die hervorgehobenen Münder und Kinnpartien der Figuren bieten eine Menge Platz für feine Mimik. Auf den sechs bis zwölf Panels pro Seite spielen sich zumeist Dialoge vor verschiedenen Hintergründen ab. Cruses Zeichentechnik besteht aus Kreuzschraffuren und vielen kleinen Punkten. So entstehen auch unterschiedliche Hautfarben in subtilen Abstufungen zwischen Weiß und Schwarz, die nie übertrieben wirken, aber auch nicht verneint werden können.

Große Graphic Novel

3-2-web-Cover-by-Howard-Cruse-Cross-Cult„Stuck Rubber Baby“ verquickt eine Milieu­studie über Liberale in den Südstaaten der Sechziger mit einer Geschichte schwuler Selbstfindung. Das Civil Rights Movement ist dabei nur der große Hintergrund, vor dem sich alles abspielt. Die zwischenmenschlichen Annährungen im kleinen, häuslichen Rahmen ohne politisches Pathos sind der Kern dieses Werkes. So ist diese fest an Ort und Epoche gebundene Geschichte doch zeitlos geworden: ein großer gesellschaftlicher Konflikt, der ein Leben geprägt hat. Ein Aufruf für den Einzelnen, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit jeglicher Art zu kämpfen. Es ist kein Zufall, dass diese Graphic Novel zu den ganz Großen zählt.

Howard Cruse: „Stuck Rubber Baby“. Aus dem Englischen von Andreas C. Knigge. Cross Cult, Ludwigsburg 2011, 240 Seiten, 26 Euro

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