Think positive! Oder so…
Es gibt Menschen, die können Flyer- und Broschürenverteiler einfach so und ohne schlechtes Gewissen ignorieren. Da ich selbst einmal diesen Job ausüben durfte, nehme ich alles, was mir entgegengereicht wird, höflichst und geduldig entgegen. Sogar mitten auf der Straße beim Überkreuzen einer Fahrbahn. Und immer wieder findet sich unter diesen ganzen Zettelchen auch schick gedrucktes Sektengebrabbel. Ich frage mich ja, warum ausgerechnet ich, als skeptische Philosophie- und Theologiestudentin, dieses Zeugs andauernd unter die Nase gerieben bekomme.
Diesmal handelt es sich um den stechend bunten Flyer einer Essener Gemeinde, die einem, mit einem großen, roten „Halt“ auf der Vorderseite, zwölf Gebrauchsanleitungen für ein glücklicheres und gesünderes Leben unterjubeln will. „Gesundheit entdecken – Halt finden – Leben feiern“. Ah, ja. Klingt doch schon mal ganz gut.
Der Inhalt verspricht auch ganz informativ und interessant zu sein. „Jeder von uns hat als kleiner Mensch das Licht der Welt erblickt – einzigartig, wunderbar, ausgerüstet mit dem Besten, das es gibt.“ Wenn sie meinen. „In jeden Einzelnen hat Gott, unser Schöpfer, ein großes Potential an Wachstums- und Entfaltungsmöglichkeiten hinein gelegt“. Oha! Jetzt muss der Arme schon wieder dran glauben und für alles seinen Kopf hinhalten. „Unser Leben ist ein Geschenk: Wir dürfen dieses Geschenk erleben –an jedem Tag.“ Sag das mal einem Obdachlosen, einem abgelehnten Asylbewerber, einer arbeitslosen, geschiedenen Mutter von zwei Kindern, einem hochverschuldeten Studenten, der sein Studium abbrechen muss, einem rettungslos Krebskranken oder einem vergewaltigten, jungen Mädchen. Sind alles Extremfälle? Dafür gibt es davon heutzutage aber verdammt viele.
Naivität zum Glücklichsein
Aber natürlich hält unsere Gemeinde auch dafür einen guten Rat bereit: „Die Bedingungen sind sicher für jeden anders, und frohe Tage wechseln mit trüben Tagen. Doch können wir unsere Leben immer wieder neu gestalten, gesteckte Ziele erreichen und Sinn im Leben finden – mit allen Chancen und Möglichkeiten.“ Also, mir fallen alleine schon die anstehenden Studiengebühren ein, um mit einem guten und schwer klein zuredenden Argument dagegen zu halten.
Aber das ist (wie könnte es auch sein) noch lange nicht alles, was die liebe Christengemeinde einem als innovativ weismachen möchte. Sie lädt einen nun auch noch ein, einen Monat lang an verschiedenen Veranstaltungen teilzunehmen, um so „neu über das Geschenk des Lebens nachzudenken.“ In diesen Vorträgen finden sich so unglaubliche Neuentdeckungen, wie, dass man sich gesund ernähren (StudentInnen wissen das bekanntlich ja nicht), viel Wasser trinken (ist das nicht diese durchsichtige, nach nichts schmeckende Flüssigkeit, die man manchmal zum Kaffee serviert bekommt?) und (Oh, Gott!) Sport treiben sollte. Auch wird einem geraten doch bitte andauernd positiv zu denken und die Natur zu genießen (zwischen Betonklötzen?), genauso, wie das Leben allgemein (arbeitslos?), ehrlich zu sein (zum Professor?), zu atmen (vergisst man schließlich so schnell) und „echte Freiheit“ zu erleben (d.h. hier: nicht rauchen, dem Leistungsdruck entfliehen, keinen Alkohol konsumieren und Stress möglichst vermeiden). Ach, ja: und auf Gott muss man eh vertrauen.
Gottes Bonusprogramm
Auf der Rückseite der Broschüre entdeckt die aufmerksame LeserIn noch einen kleinen Schmankerl: die Auflistung der positiven und negativen Einflüsse, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens ausgeliefert ist:
Auf der guten Seite: „Verantwortung, Bewegung, Erholung, Freiheit, Beziehungen, Sinn, Genuss, Freude, Hoffnung, Glück, Ziele, Vergebung, Gesunde Ernährung…“
Auf der schlechten Seite: „Verzweiflung, Versagen, Übergewicht, Depressionen, Mobbing, Schuld, Vorwürfe, Perfektionismus, Krebs, Stress, Diabetes, Arteriosklerose, Missbrauch, Abhängigkeit, Trauer…“
Scheint alles ganz unkompliziert, easy auseinander zu halten und zu bewältigen zu sein. Sind ja gänzlich Dinge, die der Mensch selber zu verantworten hat und bewusst lenken kann, nicht wahr?!
Anscheinend brauchen diese lieben Leutchen, die sich hinter diesem Schmu verbergen mal selber eine kleine Einführung in das „richtige“ Leben – da sieht das nämlich irgendwie alles anders aus. Nicht ganz so rosarot, bequem und friedlich.
Mehr Leben eben.
aw
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