bsz: Sevim, politische AktivistInnen sagen, im Mittelmeer werde ein Krieg gegen Flüchtlinge geführt. (Conny Gunßer, Pro Asyl) Man sehe, wie an den Außengrenzen der EU großflächig das Recht untergehe. (Elias Bierdel, Cap Anamour) Kannst Du das bestätigen?
Sevim Dagdelen: Ja. Menschenrechtsorganisationen kritisieren zurecht, dass sich das Mittelmeer immer mehr zu einem menschenrechtsfreien Raum entwickelt. Bis heute gibt es noch keine verbindlichen Richtlinien in Bezug auf die Achtung von Menschenrechtsabkommen und das internationale Flüchtlingsrecht. In Bezug auf diese Einsätze besteht ein eklatantes Demokratiedefizit. Denn weder das europäische Parlament noch die nationalen Parlamente haben eine effektive Möglichkeit, die Einhaltung der Menschenrechte im Rahmen von FRONTEX-Einsätzen zu kontrollieren.
bsz: Mit Frontex wurde die Praxis militärischer „Abwehr“ von MigrantInnenströmen offizielle EU-Politik. Ist Frontex aus Deiner Sicht ausreichend legitimiert, oder gibt es neben politischen auch rechtliche Bedenken gegen die Einsätze?
Sevim Dagdelen: Für mich ist FRONTEX Teil einer militarisierten Sicherheitspolitik. Diese wird massiv vorangetrieben, ohne dass der Aufbau politischer Institutionen, die halbwegs zu ihrer Kontrolle imstande wären, mit ähnlichem Eifer verfolgt wird. FRONTEX wird zunehmend zur Schnittstelle zwischen „innerer und äußerer Sicherheit“. So nimmt es auch nicht Wunder, dass sich die Militärs der „Grenzüberwachung“ annehmen. Hierfür setzten sie zum Beispiel den Leiter von FRONTEX, Ilkka Laitinen, aufs Podium der Berliner Sicherheitskonferenz im November 2008, der zusammen mit Militärs über neue Formen von „Border Management“ debattierte. Eigentlich wenig überraschend, wird doch im Rahmen von FRONTEX mit Schiffen, Flugzeugen und gut ausgerüsteten Polizeieinheiten Jagd auf Flüchtlinge im Mittelmeer gemacht, die auf den afrikanischen Kontinent zurückgebracht und in Lagern in Libyen und anderen afrikanischen Küstenstaaten interniert werden. Mit der 2008 hinzugekommenen Komponente der sogenannten „schnellen Grenz-Interventionsteams“ entwickelt FRONTEX sich rasch in Richtung einer militarisierten Grenzüberwachungsagentur, einer tragenden Säule der Festung Europa. Rechtlich problematisch ist die kaum durchschaubare Zuständigkeits- und Statusstruktur der agierenden Beamten an den EU-Außengrenzen.
bsz: Ziel von Frontex ist offensichtlich eine „Null-Toleranz“ gegenüber MigrantInnen: 2007 wurden 1.702 Schiffe in ihre Ausgangshäfen zurückgeschickt oder zurückbegleitet. Insgesamt 42.000 potentielle EinwanderInnen wurden auf See abgewiesen. Manche von ihnen werden damit in den Tod geschickt, da es in jenen Ländern, wo sie per Boot gestartet sind, keine regulären Asylverfahren gibt und ihnen in ihrem Heimatland – etwa wegen Desertion oder verbotener politischer Aktivitäten – die Hinrichtung droht. Sind in Zeiten von Frontex das Recht auf Asyl für unrechtmäßig Verfolgte sowie die Verpflichtung zur Seenotrettung endgültig ausgehebelt?
Sevim Dagdelen: Ein von PRO ASYL, amnesty international und dem Forum Menschenrechte beim European Center for Constitutional and Human Rights in Auftrag gegebenes Gutachten „Menschen- und flüchtlingsrechtliche Anforderungen an Maßnahmen der Grenzkontrolle auf See“ kommt zu der Schlussfolgerung, dass es Grenzbeamten europäischer Staaten verboten ist, potenziell Schutzbedürftige auf See zurückzuweisen, zurückzueskortieren, an der Weiterfahrt zu hindern oder in nicht zur EU gehörende Länder zurückzuschleppen. Die Europäische Menschenrechtskonvention verbietet eine Zurückweisung ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit. Diese Praktiken stellen demnach nicht nur einen Angriff auf das Leben der betroffenen Menschen dar, sondern stehen zudem in eklatantem Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten.
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bsz: Frontex arbeitet als „Agentur“ für die EU. Dient diese Konstruktion eventuell dazu, die tatsächlichen Verantwortlichkeiten zu verschleiern? Ist eine effektive (parlamentarische) Kontrolle einer solchen Agentur überhaupt möglich?
Sevim Dagdelen: Das EU-Parlament hat mit FRONTEX dem Ausbau einer Behörde zugestimmt, die sich ihrer Kontrolle weitgehend entzieht. Ohne über deren Tätigkeiten informiert zu sein, hatte es 2007 bereits das Budget von Frontex auf 35 Millionen Euro erhöht und damit gegenüber 2005 mehr als verfünffacht. 2008 waren es cirka 70 Millionen Euro. Neben dem Einfluss auf das Budget kann das Parlament lediglich Berichte von FRONTEX einfordern, von denen jedoch im vornherein feststeht, dass sie oberflächlich bleiben und keinen Einblick in die operative Tätigkeit der Behörde ermöglichen werden, da dies nach Angaben ihres Exekutivdirektors Laitinen den Erfolg der Missionen gefährden würde. Faktisch handelt es sich um eine Geheimbehörde. Und natürlich ist dies auch so gewollt. Davon einmal abgesehen, dass ich diese Behörde grundsätzlich ablehne, halte ich sie nur für bedingt kontrollierbar. Deshalb unterstütze ich die Forderung nach einer Schließung der Organisation.
bsz: Nach unserem Kenntnisstand versuchen etwa 100.000 Menschen jährlich, das Mittelmeer zu überqueren – die Hälfte davon politische Flüchtlinge. In Deutschland verringert sich die Zahl der ankommenden MigrantInnen seit Jahren: Erreichten 1992 noch über 400.000 Asylsuchende die Bundesrepublik, waren es 2003 noch etwas mehr als 50.000 und 2007 nur noch 19.000. Siehst Du Chancen, diese Tendenz wieder umzukehren?
Sevim Dagdelen: Das ist schwer, solange es keinen hinreichenden außerparlamentarischen Druck gibt, sich der rassistischen Nützlichkeitslogik entgegenzustellen, die Grundlage der bundesdeutschen Migrationspolitik ist. Das Zuwanderungsgesetz und dessen Novellierung jedenfalls fand nur in sehr begrenztem Rahmen Widerspruch. Hier gilt es stärker Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir als Bundestagsfraktion DIE LINKE haben ein Integrationskonzept beschlossen, das sich im Kern mit den Bedingungen und Voraussetzungen einer Politik befasst, die nicht nur die gleichen Rechte, sondern allem voran ein besseres Leben für alle zum Ziel hat. Das schließt Forderungen in der Flüchtlingspolitik ein.
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bsz: Seit 1998 ist – zuerst in Albanien, der Ukraine, Russland, Weißrussland und Georgien – um die EU-Außengrenzen ein zur Hälfte aus EU-Geldern finanziertes, gespenstisches System von „Auffanglagern“ für MigrantInnen entstanden. Es folgten Lager in der Türkei und Ägypten, dann in sämtlichen nordafrikanischen Staaten. Insgesamt gibt es in Nordafrika sowie der Türkei heute mindestens 56 solcher Lager. Ist eine damit latent verbundene Kriminalisierung von MigrantInnen mit asyl- und menschenrechtlichen Standards vereinbar?
Sevim Dagdelen: Natürlich nicht! Es fällt mir generell schon schwer, bei der EU-Asyl und -Migrationspolitik menschenrechtliche Standards zu entdecken, so sie nicht lediglich einem Eigennutz unterliegen. Der vermeintliche „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – so die Selbstbezeichnung der europäischen Innen- und Justizpolitik – ist für unerwünschte und abgelehnte Flüchtlinge ein Raum der Unfreiheit, der Unsicherheit und des Unrechts. Die EU stellt sich nach Außen zwar als ein „Hort der Menschenrechte“ dar. Im Umgang mit unerwünschten Migrantinnen und Migranten gelten diese Menschenrechte jedoch wenig. Bestes Beispiel ist die im letzten Jahr beschlossene „Rückführungsrichtlinie“. Die Auffanglager sollen möglichst viele Unerwünschte vom EU-Territorium fernhalten – auch in Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet und die kein funktionierendes Asylsystem sowie „katastrophale Haftbedingungen“ haben.
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bsz: Sevim, vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Uli Schröder.
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