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Die Bochumer Sektion für Geschichte Japans unterhält enge Kontakte in die Provinz Fukushima, die vom Beben und dem anschließenden Tsunami hart getroffen wurde. Seit 2009 gibt es einen Austausch mit der Universität Fukushima in der Provinzhauptstadt, etwa 60 Kilometer entfernt von den beschädigten Reaktoren. Nur durch Zufall sind momentan keine Bochumer Studierenden in der Stadt: Im März ist Wechselzeit im Austauschprogramm. „Für zwei unserer Studenten sollte das Auslandsjahr gerade losgehen“, sagt Dr. Stefan Köck, der den Austausch mit der japanischen Uni leitet. Das geht nun vorerst nicht. „Die japanischen Kollegen haben explizit darum gebeten, den Austausch zu verschieben.“ Mögliche Gefahren durch die Strahlung aus dem havarierten Atomkraftwerk waren dabei allerdings nicht der entscheidende Grund: „Vor allem hat die Stadt Probleme mit Verkehr, Energie-  und Wasserversorgung. Davon sind auch die Wohnheime betroffen.“ Anders als in einem WDR-Bericht zum Thema vermittelt, ist die Japan-Reise für die Bochumer Studenten nicht endgültig vom Tisch. „Sobald es möglich ist, holen wir den Austausch nach“, sagt Köck. In der laufenden Woche sollten eigentlich auch die japanischen Studierenden in Bochum eintreffen. „Auch mit ihnen haben wir Mail-Kontakt“, so Köck. Die Ausreise gestaltet sich aber schwierig. „Hier ist alles vorbereitet. Wann die beiden Studenten aus Fukushima ankommen, wissen aber momentan weder sie noch wir.“

Entsetzte JapanologInnen

Der ehemalige RUB-Student Martin Stroschein lebt seit 2009 in Japan. Momentan ist er vor allem eines: sauer auf die deutschen Medien. Die Berichterstattung über den Atomunfall in Fukushima Daiichi hält er für überzogen und unseriös, die Reaktionen in Deutschland für hysterisch: „Ich wäre sehr froh, wenn weniger Leute bei gerade populärem Verunsicherungsquatsch mitmachen würden.“ Während sich hierzulande einige AtomkraftexpertInnen über die angeblich unzureichende Informationspolitik der japanischen Regierung und der Betreibergesellschaft Tepco beschweren, übt er Kritik an dem, was er über das Internet aus Deutschland hört und sieht. Seine Sorge ist, dass die humanitäre Notlage in den vom Tsunami verwüsteten Gegenden hinter medial geschürten atomaren Bedrohungsszenarien zu verblassen droht. „Für mich hat es den Anschein, als wäre Strahlung für die Menschen – auch durch fehlende schulische Aufklärung – etwas geradezu Magisches geworden, unbegreiflich und daher trotz gegenteiliger wissenschaftlicher Erklärungen eine unfassbare Bedrohung. Aus einer unbestimmten Angst vor Magie heraus materielle Entscheidungen zu treffen und letztlich das echte Entsetzen des Tsunamis komplett zu vergessen, das halte ich jedoch für falsch.“Mit seiner Wut auf die westliche Berichterstattung ist Martin nicht allein. Auf der „Bad Journalism Wall of Shame“ (jpquake.wikispaces.com) sammeln in Japan lebende AusländerInnen inzwischen Fälle von „sensationalistischen, spekulativen oder einfach schlechten Berichten“ über das Beben und die atomaren Unfälle. Der Mangel an Kenntnissen über das Land und die gleichzeitige Suche nach Schlagzeilen und Erklärungen sorgen für teilweise schwer fassbare intellektuelle Fehltritte. In der Welt am Sonntag verglich ein Autor die Hubschrauber-Crews, die den havarierten Reaktor aus der Luft mit Wasser zu kühlen versuchten, mit „Kamikaze-Piloten“. Der faschistische Kriegsbefehl zum Selbstmordanschlag und die freiwilligen Rettungseinsätze im Jahr 2011 entbehren allerdings allein historisch jeder Vergleichsmöglichkeit – etwaige Rückschlüsse auf die japanische Volksseele sind noch absurder.Die Spiegel-Journalistin Nora Reinhardt sorgte mit einer Interviewanfrage an einen japanischen Wissenschaftler für Unmut bei dem Gefragten und Entsetzen unter deutschen Japanologen. Reinhardt vermutete hinter dem für sie „überraschenden“  Ausharren der Japaner in ihrem Land einen „philosophischen, typisch japanischen Ansatz“ und fragte sogar: „Ist das Motiv der Katastrophe in der japanischen Popkultur einer der Hauptgründe für die Tatsache, dass die Japaner – wie Sie – trotz des Erdbebens nicht aus ihrem Land fliehen?“ Dieser kulturalistische Schuss ins Blaue kam beim Angesprochenen nicht gut an. Stattdessen fühlte er sich angesichts des Versuches, eine pluralistische Gesellschaft zu einer in ihrer Mentalität gleichförmigen Herde von Godzilla-Fans zusammenzufassen, ernsthaft beleidigt. Also leitete er die Mail an einen befreundeten deutschen Japanologen weiter, der das Schreiben wiederum auf einem fachbezogenen Mailverteiler veröffentlichte. Dort fallen die Reaktionen auf die klischeebehafteten Fragen der Spiegel-Journalistin teilweise harsch aus: Der Umgang mit Japan sei unfair und von stereotypen Denkmustern bestimmt.

Ein wunderliches Volk

Melanie Wacker ist letzte Woche überstürzt aus Tokio abgereist. Sie hat an der Ruhr-Uni einen B.A. in Politik Ostasiens absolviert und promoviert nun an der Uni Duisburg-Essen über japanische Politik. Zum „Atomflüchtling“ wurde Melanie unter anderem, weil ihr Institut die Lage in Fukushima als bedrohlich einschätzte und sich um ein Rückflugticket für die Doktorandin bemühte. Die Sorge ihrer Mutter tat ihr Übriges. „Die Angst vor der Radioaktivität ist im Laufe der ersten Tage aus Deutschland zu mir durchgesickert“, sagt Melanie. „Zwischen Japan und hier gab es offenbar einen erheblichen Informationsunterschied.“Zurück im Ruhrgebiet wurde sie dann selbst zum Objekt der hiesigen Berichterstattung. Die Westfalenpost überschrieb die Geschichte ihrer Rückkehr mit dem Titel „Flucht vor der Strahlenwolke“. In dieser Überschrift steckt nicht nur mangelnde Reflexion über die tatsächliche Situation in Japan. Wieder schwingt auch die große Frage mit, die die Hintergrundartikel der letzten Tage beherrschte: Was sind die Japaner bloß für ein wunderliches Volk? Auf der Suche nach der Antwort wurde Melanie zur gefragten Ansprechpartnerin. Auch der WDR befragte sie zur „seltsamen Ruhe“ der JapanerInnen im Angesicht der Katastrophe. Mit dem Ergebnis ist sie indes nicht zufrieden: „Meine Aussagen wurden auf eine Art und Weise verkürzt, die an Verfälschung grenzt“, resümiert sie. Der letztlich gesendete Interviewschnipsel in der Lokalzeit Duisburg erweckt den Eindruck, auch die „Japan-Forscherin“ Melanie sei vor allem befremdet gewesen über das Verhalten der JapanerInnen. „Das ist so aber nicht richtig“, stellt sie klar. Aufgefallen sei ihr lediglich, dass die JapanerInnen in ihrem Umfeld gelassen mit der Lage nach dem Beben umgehen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte allerdings in Tokio kaum echte Gefahr, die Schäden durch das Beben waren ebenfalls gering. Die Sorge um die Situation in Fukushima war noch gar nicht in der Hauptstadt angekommen. Die Ruhe der Menschen in Tokio ist vor diesem Hintergrund nicht absonderlich. An einer derartigen Differenzierung schien der WDR allerdings nicht interessiert.

Schon wieder Kamikaze

Auffällig ist, dass sich das Verlangen nach einfachen, holzschnittartigen Erklärungen für die angebliche japanische Andersartigkeit auch und gerade in den intellektuellen Bastionen des deutschen Journalismus widerspiegelt. Die Süddeutsche Zeitung leitet ein Interview über die Hubschrauber-Einsätze zum Beispiel folgendermaßen ein: „Sollen sich Einzelne für andere opfern? In Fukushima-1 passiert das gerade. Der Historiker Conrad über Kamikaze als Symbol für die japanische Gesellschaft.“ Dass der befragte Historiker die Sache völlig anders sieht, wirkt in dem folgenden Interview fast überraschend. Martin Stroschein ärgert sich weiter: „Der Witz ist ja, dass der Interviewte die Fragen des Journalisten zu entkräften versucht und sagt, dass man eben nicht sagen könne, dass das irgend etwas mit Kamikaze zu tun hat. Dieser Einlauftext ist der Beweis für das, was in den deutschen Medien falsch läuft.“ Als Symbol für die japanische Gesellschaft eignet sich der Begriff Kamikaze jedenfalls nicht. Als Symbol für das hiesige Bedürfnis, die Ereignisse in Japan in ein stereotypes Abziehbild von einer fremden Welt zu zwängen, scheint er hingegen durchaus angebracht.

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