Thomas Bahr, Fraktionsvorsitzender der CDU in der Bezirksvertretung Innenstadt-Nord, spricht von „menschenverachtenden Lebensformen von Randexistenzen aus ganz Europa“, wenn er an die neuen osteuropäischen Zuwander_innen und das Rotlichtmilieu denkt. In den letzten Wochen forcierten CDU und SPD mit der Einrichtung eines Sperrbezirks das stadtweite Verbot der Straßenprostitution. Die Prostituierten wiederum antworten in einer Erklärung, sie haben Angst vor „gewaltbereiten Kunden und Schutzgelderpressern“ – davor, wieder „ohne Sicherheitsanlage in abgelegenen Gebieten arbeiten zu müssen“. Solange eine Nachfrage nach Prostitution bestehe, werde sie bedient werden. Oberbürgermeister Ulrich Sierau (SPD) aber will in der Nordstadt „aufräumen“, „heruntergekommene Häuser mit heruntergekommenen Einwohnern räumen lassen“. Durch die Zeitungen geistert die Formulierung vom „Eisenbesen“. Die wenige Kritik, die in dieser Debatte geäußert wird, beklagt, es werde rassistisch mit Menschen wie mit Dingen verfahren. Ende März ziehen dann etwa 75 Prostituierte und Unterstützer_innen vor das Dortmunder Rathaus, um die Schließung des Straßenstrichs, ihres Arbeitsplatzes, in letzter Minute zu verhindern.
„Randexistenzen“
Als traditioneller Arbeiter_innenstadtteil haben die Einwohner_innen der Nordstadt besonders stark unter dem Strukturwandel gelitten. In das ökonomisch absinkende Viertel zogen seit den 60er Jahren wechselnde Gruppen von Arbeitsmigrant_innen – mit unterschiedlichem Erfolg. Der Arbeitslosenanteil schwankt heute um die 25 Prozent, die Behörden zählen in der Bevölkerung einen Migrant_innenanteil um die 50 Prozent. Seit der EU-Osterweiterung ziehen vermehrt Sinti und Roma aus Bulgarien und Rumänien in die Nordstadt, die in ihren Heimatländern rassistischer Verfolgung, staatlicher Ungleichberechtigung und ökonomischer Ausgrenzung ausgesetzt sind. Im Zuge der Aufwertung des Brückstraßenviertels zur Amüsier- und Shoppingmeile der Innenstadt wurde die vorher dort auf der Straße florierende Drogenszene durch ordnungspolitische Maßnahmen verdrängt. Ein berüchtigter Umschlagsplatz für Drogen ist heute die Bornstraße in der Nordstadt, trotz der dort zur Bekämpfung eingerichteten Stelle des Ordnungsamtes. Die Wege sind kurz: Einige Minuten Fußweg Richtung Süden braucht man von hier, um an der Reinoldikirche und damit mitten in der Fußgängerzone anzukommen. Die Straße hinauf Richtung Norden kreuzt man die Einfuhrschneise der Freier in den Straßenstrich der Ravensberger Straße.
„Verrichtungsboxen“
Hier arbeitet die Kommunikations- und Beratungsstelle für Prostituierte, KOBER, mit einem ständigen Büro direkt neben den „Verrichtungsboxen“. Seit 2006 wird den Prostituierten kostenlose Beratung und ärztliche Versorgung geboten. KOBER mischt sich auch ein, wenn die Politik mal wieder über die Köpfe der Menschen hinweg diskutiert, die hier arbeiten. Einige der Prostituierten entschieden dann im März: „Wir Frauen vom Dortmunder Straßenstrich gehen auf die Straße!“ Überall in NRW titeln Zeitungen den „Marsch der Huren“. Gedruckte Bilder von Frauen, bei denen ein kurzer Rock die Bereitschaft zu schnellem Sex und Prostitution symbolisieren soll, haben Konjunktur. Hier trifft sich die Sexualmoral der konservativen religiösen Gemeinden und männlicher Straßencliquen der armen Nordstadt mit der der Lokaljournalist_innen aus den reichen Vororten als Dortmunder Öffentlichkeit. Ein gedrucktes Bild am Tag nach der Demo behauptet in der Bildunterschrift, eine protestierende Prostituierte zu zeigen – und zeigt doch nur einen Zoom auf ihre Brüste. Unter den Protestierenden: die neue linke Subkultur der Nordstadt, die im Zuge erster Aufwertungsbemühungen in renovierte Student_innenwohnungen gezogen sind. Auch sie mischen sich in die Diskussion ein: Im Februar fliegen Farbeier gegen die Wohnung von Thomas Bahr. Sie werfen ihm vor, er habe in der Debatte „ein Vokabular“ benutzt, das „die Grenzen des Rechtspopulismus endgültig überschreitet und im Wörterbuch des NS angesiedelt ist“. An seiner Tür hängen NPD-Beitrittsformulare mit seinem Foto und seinen Daten. Der Rat der Stadt Dortmund verurteilt die Tat. Es wird befürchtet, dass die Nordstadt zu den aktuellen Problemen nun noch eines mit den Autonomen bekomme. Zwei Tage zuvor fliegen Steine auf Polizist_innen und das Ordnungsamt.
„Nordstadteltern“
Mitte 2009 bekam die „Nordstadtdebatte“ ihre letzte Konjunktur, als einige deutsche Mütter unter dem Label „Nordstadteltern“ 3.000 Postkarten an Politiker_innen verschickten, die Motive von Prostitution sowie Alkohol- und Drogenkonsum mit provokanten Sprüchen zeigen. KOBER kritisiert, die abgebildeten Personen seien nicht um ihr Einverständnis gebeten worden, die Nordstadteltern agierten diskriminierend und kämen ihrer Vorbildfunktion nicht nach. Das trifft die Nordstadteltern kaum. Sie machen weiter mit im Zeichen des „Kindeswohls“ stehenden Forderungen nach einer Kontrolle von angeblichen „Menschenansammlungen“ von Osteuropäer_innen (die Zeitungen sprechen ab jetzt von „ethnischen Gruppierungen“), einer „Wiedereinführung von Meldevorschriften“ und einer Verdrängung von Drogenkranken und Prostituierten. Ende 2009 ziehen auch sie in einem Sternmarsch vor das Dortmunder Rathaus. Unter dem öffentlichen Druck überschlagen sich von nun an Politiker_innen in ausgrenzenden Wortbeiträgen, welche die Wünsche der „Nordstadteltern“ befriedigen sollen und in ihren ordnungspolitischen Kurs einstimmen. Die Debatte bewegt sich dann von den Osteuropäer_innen zu den sogenannten „Ekelhäusern“, in denen einige von ihnen mangels Alternative ziehen. Für ihr Elend werden sie selbst verantwortlich gemacht, wenn man ihnen nicht gleich vorwirft, von hier aus Menschenhandel mit Frauen aus ihrer Heimat zu betreiben, um sie auf den Strich zu schicken. So landete die Debatte schlussendlich „hinter Hornbach“, wie eine Dortmunder Redewendung besagt. Ende März beschloss der Rat ein Verbot der Straßenprostitution für das gesamte Stadtgebiet. An der Umsetzung wird noch gefeilt. Schon befürchten Nachbarstädte wie Bochum, dass die Prostituierten nun zu ihnen kommen. Fortsetzung folgt.
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