Die deutsche Berichterstattung über „3/11“ zeichnet sich durch einen Widerspruch aus: Als sie noch nichts wussten, vielleicht auch nichts wissen konnten, schrieben sich die JournalistInnen die Finger wund über Japan und die JapanerInnen. Jetzt wissen sie mehr, aber sie schreiben es seltener. Monate nach der Katastrophe ist kaum noch die Rede von den „seltsam gelassenen“ JapanerInnen. Niemand unterstellt mehr, dass die ArbeiterInnen in Fukushima den Geist der Kamikaze-Piloten aufleben lassen, wenn sie am AKW ihr Leben riskieren. Die reflexartigen publizistischen Kurzschlüsse, einen andersartigen japanischen „Volkscharakter“ konstruieren zu müssen, um dem „Westen“ das Unfassbare erklären zu können, haben weitgehend aufgehört. Stattdessen gibt es inzwischen auch fundierte Analysen der politischen Lage in Japan – wenn auch an weniger prominenter Stelle. Christoph Neidhart, Japan-Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung und andere große Blätter, bewies bei seinem Vortrag an der RUB, dass auch er zu den Journalisten gehört, die zu solchen Analysen fähig sind.
Institutionelle Korruption
Neidhart hat – wie kürzlich auch der Spiegel – angefangen, rationale Erklärungen für die Defizite der atomaren Sicherheit in Japan zu geben. Der Bau von AKWs in Erdbebengebieten, unterschlagene Mängelberichte, falsche Informationen über den Zustand des havarierten Atomkraftswerks in Fukushima – diese und andere Phänomene seien vor allem auf das Fehlen von effektiver staatlicher Kontrolle zurückzuführen, so Neidhart. „Im atomaren Bereich, aber auch in anderen Politikfeldern hat sich über Jahrzehnte eine Form von institutioneller Korruption etabliert“, erklärt der Journalist. Pensionierte BeamtInnen haben nach ihrer Karriere in der Atomaufsichtsbehörde NISA gute Aussichten auf einen hochdotierten Job bei Stromgesellschaften wie TEPCO. Das Gleiche gilt für WissenschaftlerInnen, die sich bereits seit ihrer Ausbildung an der japanischen Eliteuniversität Tôdai gut mit den angehenden BeamtInnen verstehen, die an der gleichen Uni studiert haben, ebenso wie die meisten PolitikerInnen. Ehemalige TEPCO-Funktionäre haben zudem einen guten Zugang in die Politik – vor allem in die dominierende japanische Partei LDP, die erst 2009 nach über 50 Jahren die Macht im Land verlor. „Die lange Dominanz der LDP führte auch dazu, dass in Japan oft eher die loyalsten, nicht aber die kompetentesten Kandidaten bei der Ämtervergabe vorne lagen“, fasste Neidhart zusammen. Was sich im Atomenergiesektor nun als so fatal erwies, gilt in Japan für viele Bereiche: Kontrollbehörden und Kontrollobjekte sind mit den gleichen Menschen besetzt.
Diese „institutionelle Korruption“ ist, wie der Begriff bereits nahe legt, nicht mit Erklärungen zu fassen, die sich auf den besonderen „japanischen Volkscharakter“ beschränken. Sie ist historisch und politisch bedingt und keineswegs ein rein japanisches Phänomen – wie zum Beispiel ein Blick auf Gerhard Schröder zeigt, der im Amt den „lupenreinen Demokraten“ Putin lobte und als Altkanzler bei Gazprom im Aufsichtsrat sitzt. Auch Neidhart betonte auf seinem Vortrag ausdrücklich, dass er Pauschalisierungen im Umgang mit Japan ablehne. Das würde in seinen Artikeln allerdings nicht immer deutlich, merkten einige kritische ZuhörerInnen im Anschluss an die Veranstaltung an.
Wegmarke, nicht Startpunkt
Neidhart, der seit 2002 in Tokio lebt und arbeitet, ließ seiner Analyse des politischen Systems schließlich eine passende Einschätzung über die Bedeutung von „3/11“ für das Land folgen. Japan, so der Journalist, verändere sich bereits seit Jahren. Die dreifache Katastrophe sei insofern kein Auslöser, sondern nur eine Wegmarke für den Wandel des Landes. Die symbolträchtige Bezeichnung „3/11“ mag da irreführend wirken – in Ostasien ist es jedoch üblich, wichtige Ereignisse mit Zahlenkombinationen auszudrücken. Ebenso relativ ist der Begriff „Wandel“ in Bezug auf Japan zu verstehen: Politische Veränderung braucht viel Zeit in diesem Land, daran wird möglicherweise auch „3/11“ nichts ändern.
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